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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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XVII/2010
ISBN 978-9985-870-27-3

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Zur Charakteristik führender juristischer Periodika im 19. Jahrhundert in Deutschland

I. Eine Expedition

Mein Titel folgt einer freundlichen Anregung der Tagungsleitung. *1 Er führt, wie es scheint, recht bieder in eine ziemlich bekannte Landschaft. AcP *2 und Savigny-Zeitschrift, Jherings Jahrbücher und Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft, Zeitschrift für Staatswissenschaften, Archiv für öffentliches Recht, Verwaltungsarchiv – alles wohlbekannte Namen. In der Tat wurden alle diese Zeitschriften bereits im 19. Jahrhundert begründet. „Zeitschrift“ diente dabei seit Savignys „Zeitschrift“ von 1815 als Kennwort einer wissenschaftlichen Ausrichtung, anders als der allgemeinere Name „Archiv“. *3 Dieser Nimbus von „Zeitschrift“ klingt in der Vorliebe dafür bis heute nach. Die allgemeinere Bezeichnung Periodika erfasst aber neutraler die Gesamtheit der Annalen, Archive, Beiträge, Blätter, Jahrbücher, Magazine, Mitteilungen, Monatsschriften, Wochenblätter, Zeitschriften, Zeitungen – wie sie auch sich nennen mögen. Unberücksichtigt bleiben hier die Gesetz-, Verordnungs-, Ministerialblätter und sonstige „amtliche“ Verlautbarungsorgane. *4 Sie zeigen ein klar eigenes Profil im Rahmen des bekannten Verrechtlichungsprozesses im 19. Jahrhundert. Die Reise in die juristische Periodikawelt des 19. Jahrhunderts in Deutschland hat aber doch eher den Charakter einer Expedition, als den eines gemütlichen Erinnerungsausflugs. Die erste Etappe muss nämlich heißen: Im Dschungel – was tun? (II) Mit der Machete kommen wir nicht durch – durch, das hieße nämlich, durch die rund 550 juristischen Periodika seit ca. 1800 und die allein rund 270 seit 1871 bis 1900 oder rund 400 seit 1850 eine außerdem um mindestens 100 auf 500 zu ergänzende Zahl. *5 Ähnlich gewaltige Dimensionen erreichte nur die ähnlich föderale Periodikawelt der italienischen Staaten mit rund 530 Einheiten von 1850–1900. *6

Die zweite Etappe kann daher nur als eine sogenannte Höhenkammwanderung (um das kritische literaturgeschichtliche Stichwort der 1970er Jahre zu verwenden) stattfinden (III). Es muss und kann dabei etwas genauer betrachtet werden, was sich generell heraushebt. Das ist jedenfalls der Fall, wenn eine Zeitschrift über 10 Jahre andauerte oder gar bis heute aushielt. Dieses Kriterium ist bewusst neutral gewählt, nur die Jahre zählen also zunächst. Denn was ist eigentlich eine „führende“ Zeitschrift – eine offenbar abgründige Frage nach dem „Führenden“. Wir verfügen für die Jurisprudenz leider nicht über eine so urteilsintensive Übersicht eines glänzend informierten Zeitgenossen, wie etwa die von Gustav Schmoller zu den ökonomischen und politischen Staatswissenschaften von 1885 *7 , die uns zuverlässig zum zeitgenössisch Führenden führen könnte. Die Forschung bietet inzwischen einige Versuchsbohrungen, insbesondere in dem grundlegenden Medienband von 1999 *8 , aber keinen Überblick zum „Führenden“ in Deutschland. Wissenschaftsgeschichtlich hat Paolo Grossi 1982/83 die Thematik systematisch und für „tutti i giuristi“ eröffnet. *9 Der deutsche Reichtum war nur vereinzelt als erstrangige Quelle erkannt und genutzt worden. *10

In einem vierten und letzten Teil werde ich versuchen, einige allgemeinere Charakteristiken, Tendenzen und Bedingungen plausibel zu machen, sowie einige Vergleichspunkte heran zu ziehen (IV).

II. Im Dschungel also – was tun?

1. Die Dimensionen

Da die Machete immer nur ein gar zu kleines Stück klärt, muss die Vogelperspektive gewählt werden. Aus ihr sieht man allerdings sehr vieles einfach nur in Grün. Aber: Es gibt doch rettende Listen und Verzeichnisse. Sie erlauben auch einige Quantifizierungen. Als Verzeichnis maßgebend ist die dreibändige „Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebiets bis 1900“ von Joachim Kirchner. *11 Dort findet man zum ganzen 19. Jahrhundert ca. 575 juristische Periodika, darunter freilich auch viele Gesetzblätter und Amtsblätter, einige wenige Buchreihen und weniges Deutschsprachige aus Österreich und der Schweiz, die hier abzuziehen wären. Es kommen aber trotz aller bewundernswerten Akribie Kirchners relevante Ergänzungen aus anderen Quellen hinzu. *12 Die rund 575 Einträge bei Kirchner erfassen eine Menge Amtsblätter u.ä., wie soeben erwähnt, von wissenschaftsgeschichtlich anderem Charakter und sind insoweit hier zu bereinigen um ca. 65 *13 und weitere rund 20 für bloße Fortsetzungen mit geändertem Titel unter neuen Zählnummern, auf rund 490. Nimmt man die geschätzten Ergänzungen bei Mohnhaupt und im Münchener Verzeichnis wie erwähnt wieder dazu, so landet man wieder mit ca. zusätzlichen 80 Einträgen bei zusammen 570. Im Ergebnis handelt es sich um eine Dimension von ca. 570 *14 im 19. Jahrhundert existent gewesenen Zeitschriften, Zeitungen und Entscheidungssammlungen.

Statistisch haben das Material dieser Periodika allgemein aufbereitet Kootz 1908 und Lorenz 1937 nach dem Klassiker „Sperling“ und einigen Zusatzquellen, sowie Arends/Klippel 1999 für den Bereich Recht nach Kirchner *15 . Seit 1887 ist die verlässlichste und umfassendste Quelle das jährliche  „Zeitschriften- und Zeitungsadreßbuch“ für den Buchhandel von H.O. Sperling, kurz „Der Sperling“.

Um die Dimensionen etwas abschätzbar zu machen ein Minimalvergleich: Allein 1997 gab es in Deutschland rund 500 laufende juristische Fachzeitschriften *16 , 1913 zählte man 627 als Höchststand seit 1887 mit 186; 1930 waren es ‚nur‘ 260 bzw. 298, 1938 155; aber dabei waren seit 1922 die „sozialwissenschaftlichen“ Periodika abgetrennt, die 1930 allein 476 ausmachten – zusammen wie 1913 waren es also mit 627 zu 774 erneut mehr, freilich dies wieder nicht voll relevant. *17 Statistika, sie werden schnell zu genau – jedenfalls lesen wir heute in einem einzigen Jahr mit rund 500 gewissermaßen ein ganzes 19. Jahrhundert, schaut man einmal nur auf je einen Band. Nach einem nur sehr allmählichen Anstieg im frühen 19. Jahrhundert nach 1815 (die Napoleonzeit hatte stark reduziert) fand eine erste Explosion dieser Periodikawelt statt seit 1871 im neuen Deutschen Reich. Es folgte ein Anstieg der Neuerscheinungen um rund 100% seit den 1850er und 1860er Jahren und ein erneuter Boom um rund 300% in den 1890er Jahren gegenüber den 1860ern. Die Zuwachsdimensionen an Neugründungen sind also gewaltig, nämlich *18 : 1850er Jahre: 18, 1860er: 28, 1870er: 42, 1880er: 99, 1890er: 109 neue juristische Periodika.

Daneben steht übrigens die meist übergangene ebenfalls gewaltige Umfangsvermehrung der einzelnen Jahrgänge der meisten Langläufer. So wuchs das „Archiv für civilistische Praxis“ von einem Anfangsdurchschnitt nach 1818 um 15 Seiten (pro Beitrag und Band) auf rund 26 Seiten nach 1822, rund 30 um 1867, aber dann bis zu 40 und deutlich mehr seit 1893; also verdoppelte, ja verdreifachte es sich. Das belegt eine Art zweite ‚Revolution des Geistes‘. Nach 1789 meint dieses geflügelte Wort die deutsche Lösung des Denkens und Dichtens in die Zukunft, nach 1830 und deutlich nach ca. 1860 beginnt eine gewaltige, sozial viel allgemeinere Schreibproduktion, auch eine Revolution des Geistes.

2. Der Übergang zu “Deutsch”

Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 bedeutete bekanntlich eine grundlegende Neuordnung und Zentralisierung der Justiz und der Gesetzgebungsinstitutionen und damit einen wesentlichen Verfassungswandel auch in den Ländern. *19 Die bisherigen zahlreichen Entscheidungssammlungen partikularer Gerichte wurden konzentriert *20 und ebenso die zahlreichen preußischen, bayrischen, sächsischen, mecklenburgischen, thüringischen, rheinischen u.a. Zeitschriften, z. B. die in mehreren Wellen verbreiteten Gerichtszeitungen *21 mit ihren allgemein interessierenden Nachrichten. Sie wären wahrscheinlich ein Thema für sich. Die bis dahin herrschende Dominanz der partikularen Literatur und besonders ihrer Periodika trat zurück und wurde neu überlagert durch reichseinheitliche Periodika. Etliche sogenannte Central- oder Zentralblätter entstanden, etwa ein „Zentralblatt für Rechtswissenschaft“ 1881, ein „Sozialpolitisches Zentralblatt“ mit juristischer Perspektive 1892, auch ein „Zentralblatt für freiwillige Gerichtsbarkeit“ 1890, für „Jugendrecht“ 1908, für „Handelsrecht“ 1897. Ältere Zeitschriften bemühten sich von nun an ein „Centralorgan“ zu werden, so etwa der „Gerichtssaal“ seit 1858. *22

Ebenso nahmen viele Periodika nun das Wort „deutsch“ in den Namen auf, teils ganz neu oder in Umstellung ihres Titels, so etwa die „Zeitschrift für Deutschen Zivilprozess“ 1880, die „Annalen des Deutschen Reiches“ 1888, Die „Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht“ 1892, die „Deutsche Juristenzeitung“ 1896, die „Deutsche Notarzeitschrift“ 1900 und die „Deutsche Richterzeitung“ 1909. Gruchots „Preußische Beiträge“ wurden zu „Deutschen Beiträgen“ 1871 und ebenso Goldtammers „Archiv für Strafrecht“ zu einem „Deutschen Archiv“ 1871. Der politische Einigungsprozess schlägt somit unmittelbar durch auf die juristische Publizistik und verändert sie auch inhaltlich stark. Freilich erkennt man kaum methodische Änderungen. Sie sind offenbar von diesem Aspekt nicht abhängig. Der nationale Aspekt ist relativ leicht erkennbar. Was sieht man sonst?

3. Tabellarischer Überblick

Für einen besseren Überblick ebenso wie einige Anschauung habe ich vier alphabetische Tabellen erstellt (s.u. V.). Sie nennen für die Zeit vor 1830 nur weniges zur Erinnerung, werden aber für nach 1830 ziemlich genau. Sie enthalten nun alle Langläufer, d.h. Zeitschriften von mehr als zehn Jahren Laufzeit; nur bei den Entscheidungsammlungen wurde auf die annähernde Vollständigkeit von rund 40 Titeln allein bei Kirchner verzichtet und ein reduziertes Bild, möglichst ohne Verzerrung, gegeben. Damit neutralisiert sich zunächst das Problem genauerer Zahlen, da es im wesentlichen auf den Unklarheiten mit den vielen Kurzläufern beruht. *23 Zugleich kann dieser Zugriff besser, aber auch nur, einige Tendenzen und Fakten veranschaulichen, die sich bei voller Durchsicht als auffallend erwiesen.

Die Tabellen bieten so rund 120 von 160 Langläufern insgesamt (also mit rund 30 Amtsblättern und 35 Entscheidungssammlungen) nach 1830. Einige Kurzläufer von besonderem sachlichen Interesse werde ich im Text einbeziehen.

4. Vier Gruppen

Man kann vier Gruppen erkennen, zwei größere und zwei kleinere. Sie sind so in den Tabellen zusammengestellt. Es handelt sich um die mehr praktisch orientierten, die mehr wissenschaftlich orientierten, die allgemein, d.h. in der Mediengeschichte populär, sein wollenden und die berufsständischen Zeitschriften. Die Zuordnung war meist nach Titel und weiteren Indizien klar. Nicht jede Zeitschrift konnte eigens durchgesehen werden. Die Zweifelsfälle dürften aber keine hier relevante Dimension erreichen. Nicht alle Schlußdaten nach 1900 wurden eigens ermittelt. Es gibt oft erhebliche Schwierigkeiten, da die aktuellen Verzeichnisse jede bloße Titeländerung als eigene Zeitschrift nennen und diese, anders als Kirchner, nur selten ausdrücklich verknüpfen. Es kann also immer noch eine ‚unbekannte‘ Fortsetzung geben.

(1) Die deutlich größte Gruppe bilden die praktischen Zeitschriften mit den Entscheidungssammlungen (s. Tabellen 3 und 1 in V.). Die Entscheidungssammlungen nehme ich hinzu, denn reine Entscheidungssammlungen sind selten und in der Sache stellen sie alle nur einen Ausschnitt aus der Summe derjenigen Periodika dar, die sich den konkreten Rechtsanwendungsproblemen widmen. Zusammen bilden sie eine wissenschaftsgeschichtlich relevante Gruppe. Schon die praktischen allein liegen knapp vor den wissenschaftlichen (37 zu 34 bei Kirchner). Es handelt sich auch in meiner Auswahl nach Langläufern um ca. 37 Zeitschriften und ca. 20 von ca. 40 Entscheidungssammlungen – eine vergleichsweise in Europa gewaltige Dimension. Sie hat natürlich zu tun mit der deutschen föderalen Vielfalt, die schon die Titel zeigen. Beispiele für Entscheidungssammlungen sind die Berliner „Annalen der Criminalrechtsprechung“, später „der Strafrechtspflege“, die „Annalen der Badischen Gerichte“, die „Casseler“ und „Kurhessischen Annalen“, Seufferts bekanntes „Archiv“, das sächsische „Archiv für Verwaltungsrecht“, die „Hanseatische Gerichts-Zeitung“ (entgegen dem Titel) usw.

Nicht hierher zählt das „Archiv für civilistische Praxis“, denn dieses wurde bald sehr wissenschaftlich. Um 1900 standen darin lange Aufsätze von nicht selten an die 100 Seiten. *24 In den wirklich ‚praktischen‘ Zeitschriften beherrschten inhaltlich Gerichtsnachrichten, Gesetzgebungsnachrichten und Fallerzählungen, Verwaltungsfragen, Personalfragen und kleinere dogmatische Fragen das Bild. Es sind die kleineren Fragen, von denen Jhering 1857 in seinen und Gerbers „Jahrbüchern“ sich lösen will für die nötigen „prinzipiellen Analysen“ bzw. für die Erfassung des „Einzelnen im Zusammenhang mit seinem Prinzip *25 . Ein Beispiel für die Inhalte gibt „Der Gerichtssaal. Zeitschrift für volkstümliches Recht“. Der strafrechtlich engagierte Herausgeber Ludwig von Jagemann aus Karlsruhe *26 erklärt 1849, seine Zeitschrift solle enthalten:

„I. Abhandlungen über Grund und Zweck der neuen deutschen Gesetzgebung, im Geiste der Vermittlung zwischen Volk und Gericht.

II. Aufsätze über die Bedeutung und Entwicklung der rheinischen, französischen, schweizerischen und englischen Rechtsinstitute, soweit sie uns als Vorbilder dienen.

III. Fingerzeige über die Pflichten und amtliche Tätigkeit aller Gerichtspersonen, insbesondere des Staatsanwalts, des Jugendrichters, Gerichtspräsidenten, Zivil- und Kriminalrechtlers, Geschworenen, Rechtsanwalts und Verteidigers im neuen Verfahren.

IV. Erläuterungen über Genesis und … der einschlägigen Reichsgesetze und daraus abschließenden Particulargesetze, zum Berufe der praktischen Anwendung.

V. Darstellungen anziehender, öffentlich-mündlich verhandelter Rechtsfälle, beschränkt auf die wesentlichsten Tatsachen, mit Kritik des Verfahrens und der Entscheidung.

VI. Übersichten, Notizen, Anzeigen und Anfragen aus dem Gebiet der Rechtsstatistik, der Literatur, der Kammer- und Gerichtsverhandlungen.“

Es sind die Rubriken einer typischen Zeitschrift dieser praktischen Gruppe.

Ein anderes Beispiel gibt das „Archiv für das Civil- und Criminalrecht der königlich preußischen Rheinprovinzen“. Im ersten Band, Köln 1820, erklärt der Herausgeber folgende Themen zum Programm:

„Eine getreue Darstellung aller interessanten Civil- und Criminalrechtsfälle, welche bei dem rheinischen Appellations-Gerichtshofe vorkommen werden nebst den in diesen Rechtsfällen erfolgenden Entscheidungen und Urteilssprüchen …“, dann in einer zweiten Abteilung „a) die merkwürdigsten Entscheidungen der Tribunale erster Instanz … b) eine kurze Übersicht der Urtheilssprüche, welche bei dem Revisionshofe zu Berlin ergehen werden … c) Abhandlungen über einzelne Materien der in den Preuß. Rhein-Provinzen geltenden Gesetzgebung; d) Ministerielle Reskripte und Verfügungen, in so fern sie sich zur öffentlichen Bekanntmachung eignen; e) diejenigen Sendschreiben des General-Prokurators, welche ein allgemeines Interesse darbieten; f) Nachrichten und Bemerkungen über neue Gesetze, Einrichtungen und Schriften, welche die Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung in den Rhein-Provinzen betreffen.“ *27

Auch am Ende des Jahrhunderts findet man ein ähnliches Bild, in dem freilich die allgemeinen Nachrichten über die Gerichte, das Personal und Reskripte und dergleichen eher zurück getreten sind. So bringt etwa das „Sächsische Archiv für Bürgerliches Recht und Prozess“ in seinem ersten Band 1891 eine Rubrik „Abhandlungen“, und eine Rubrik „Verzeichnis der besprochenen Literatur“. Die Abhandlungen stammen ausnahmslos von Praktikern: Reichsgerichtsräten, Amtsrichtern, Landgerichtsdirektoren, Appellationsgerichtsvizepräsidenten, Gerichtsassessoren usw. Sie widmen sich Einzelfragen der neuen Konkursordnung, des sächsischen BGB, des deutschen BGB, der Lehre vom Offenbarungseid, dem Entwurf eines Patentgesetzes, dem Immobiliarpfandrecht im BGB-Entwurf, den einstweiligen Verfügungen nach der sächsischen Gerichtsordnung, dem Vornamen und Familiennamen im BGB-Entwurf, den Mehrheiten von Versicherungen, der zweiten Lesung des BGB-Entwurfs, den Voraussetzungen einer Schadensersatzpflicht nach dem BGB-Entwurf, der Lehre von der Beweislast und einigen Fragen der Gewerbeordnung. Bei den Literaturbesprechungen findet sich auch ein Werk über die volkswirtschaftliche Bedeutung des Abzahlungsgeschäfts. Im Ganzen scheint der wissenschaftliche Charakter nun mehr hervorzutreten.

In diesen Zeitschriften schreiben also Richter, Anwälte, Assessoren, Staatsanwälte, Verwaltungsbeamte, auch Strafanstaltsbeamte, Gerichtsvollzieher und andere Praktiker. Getragen werden diese Zeitschriften weniger personell als institutionell, also von bestimmten Gerichten, Verwaltungsbehörden, Notarvereinen, Richtervereinen, Anwaltsvereinen und ähnlichen Institutionen. Das entspricht zum einen der erheblichen Ausdifferenzierung der Juristenprofession im nun intensiven Staatsbildungsprozess hin zum sog. Interventionsstaat. Zugleich passt es gegenläufig zur intensiven deutschen Vereinsbildung als nicht nur bürgerlichem, pluralistischem Organisationsprozeß seit ca. 1830 und besonders nach 1848. *28 Die Veränderung der sozialen Organisation der Gesellschaft von ständischen Korporationen zu freieren Assoziationen ließe sich daran genauer ablesen.

(2) Die zweitgrößte Gruppe bilden die primär wissenschaftlichen Periodika (s. Tabelle 4 in zwei Teilen a–y und z in V.). In meiner Übersicht sind es rund 35. Vielleicht ist das sogar etwas überdimensioniert, aber es handelt sich doch klar um die zweitgrößte Gruppe. Hier schreiben Rechtsprofessoren und solche, die es werden wollen, daneben gelehrte, meist hochrangige Praktiker. Man schreibt recht ausführlich und grundsätzlich, zwischen dreißig und über hundert Seiten. Die Formate sind kleiner, die Erscheinungsweise zeitlich gestreckter – das ähnelt den Monographien als dem Muster der wissenschaftlichen Arbeit seit Savignys „Recht des Besitzes“ von 1803. *29 Im Ganzen wirkt das Bild grundsätzlicher als heute. Beispiel ist schon das „Archiv für civilistische Praxis“ seit 1818. Es heißt zwar „praktisch“, hat sich aber schnell, und im späten 19. Jahrhundert immer mehr, zu einer Professoren-Zeitschrift mit langen dogmatischen Aufsätzen entwickelt. Das zeigt eine genauere Statistik *30 . Natürlich passen hierher auch späte Beispiele, wie das „Archiv für öffentliches Recht“ 1889 ff., Kohlers „Archiv für Bürgerliches Recht“ 1888 ff., aber auch frühere, wie Goldtammers Strafrechtsarchiv 1857 ff., Gerbers und Jherings „Jahrbücher“ 1857 ff., auch Schletters „Jahrbücher“ 1855 ff., Rudorffs u.a. „Zeitschrift für Rechtsgeschichte“ 1860 ff und 1880 ff., Goldschmidts „Zeitschrift für Handelsrecht“ 1858 ff, Grünhuts „Zeitschrift für Öffentliches Recht und Privatrecht der Gegenwart“ 1874 ff., von Liszts „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ 1881 ff., Doves Kirchenrechtszeitschrift 1860 ff., Bernhöfts „Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft“ 1880 ff. und auch schon die alte Mohl’sche „Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften“ 1844 ff., wie auch das späte „Jahrbuch des öffentlichen Rechts“ von Jellinek 1907 ff.

Ich habe soeben die Herausgebernamen jeweils mitgenannt. Denn hier bilden bestimmte Professoren-Persönlichkeiten viel mehr die entscheidende Trägergruppe als bei den praktischen Zeitschriften. Auch das unterscheidet beide Gruppen deutlich. Man bemerkt zudem klar die zunehmende Spezialisierung und die häufige Alleinstellung einer Zeitschrift im Fach. Ebenfalls bemerkt man wieder eine zunehmende Verwissenschaftlichung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

(3) Die beiden letzten Gruppen sind sehr viel kleiner. Zunächst geht es um die populären Rechtszeitschriften und -zeitungen auch für juristische Laien (s. Tabelle 2 in V. – dort zusammengefasst mit der folgenden Gruppe). Sie haben kaum länger Erfolg gehabt. Ich fand insgesamt, also hier mit den Kurzläufern, etwa rund zwanzig seit 1789 *31 , jedenfalls soweit die bloßen Titel eine Zuordnung ermöglichten: eine „Rechtslehre für das Volk“ erschien nur 1796 als Wochenschrift durch J.V. Eybel in Linz, die „Blätter für Jurisprudenz, Polizei und Cultur in Detuschland“ erschienen nur 1800 durch Chr. Assal und Chr. Oemler in Jena/Leipzig, die „Themis, eine juristische Wochenschrift zur Belehrung für diejenigen, welche die Rechte nicht studiert haben“ nur 1813 in Leipzig, die „Rechtserforschungen für Juristen und Nichtjuristen“ des Heidelberger Theologen H.E.G. Paulus nur 1824/25, die wöchentliche „Allgemeine juristische Zeitung“ von Chr.F. Elvers und Bender in Rostock und Göttingen nur 1828–30 und die „Allgemeine Rechtszeitung für das deutsche Volk“ desselben Elvers in Göttingen nur 1831, ein „Hand- und Taschenbuch für die Einwohner des Preußischen Staats …“ nur 1840, ebenso „Der allgemeine Telegraph für die deutsche Gesetzeskunde“ durch A. Müller aus Heilbronn, im lebhafteren Vormärz immerhin drei Jahre von 1843–46 die „Patriotische Blätter für Freunde gesetzlicher Ordnung“ durch J.A.K. Schröter in Leipzig und ebenfalls drei Jahre die „Zeitschrift für volkstümliches Recht“ dann als „Das Volk und sein Recht“ und zuletzt als „Die Reform“ durch G. Eberty in Halle und Berlin. Wieder nur ein Jahr erschien 1847 „Der Criminalist. Zeitschrift zur größeren Verbreitung praktischer Rechtskenntnisse im Volke …“ in Berlin und 1848 der „Sprechsaal für das anhaltische Volk“ durch Zeising in Bernburg, dann 1851 die „Volksthümliche Zeitschrift für deutsche Rechtspflege und Verwaltung. Ein gemeinverständlicher Rathgeber …“ durch Karl in Leipzig, 1860/61 dann ein „Gerichtliches Unterhaltungsblatt für Stadt und Land“ durch O.v. Kessel in Berlin, ähnlich in Berlin ein „Deutscher Gerichtssaal. Journal für Unterhaltung und Belehrung“. 1874–76 halten sich in München und Augsburg die „Blätter für deutsche Politik und Recht“ durch M. Huttler.

Diese Blätter sind im Format meist größer als Oktav und nennen sich häufig „Zeitung“. Sie erscheinen kurzfristiger, meist wöchentlich, schon bedingt durch den entsprechenden Postlauf. Und sie sind thematisch universaler als Fachorgane. Damit fallen sie in die mediengeschichtlich gern diskutierte Kategorie Zeitung statt Zeitschrift. *32 In der Tat trifft das ihren hier zusammenfassend populär genannten Charakter. Ihr Aufkommen und ihre Verbreitung haben viel zu tun mit den jeweiligen Zensurbestrebungen und -normen, die auf diese Organe besonders streng achteten. Am 20.9.1818 hatte der Deutsche Bund in seinem Pressgesetz alle Zeitschriften und Zeitungen der Vorzensur unterworfen. Das wurde sofort am 3. März 1848 vom Bund selbst suspendiert und Vorzensur auch nach 1850 nicht wieder eingeführt. Aber weiter und neu griffen nun die Regierungen zu Postzwang, Kautions- und Konzessionszwang, Stempelsteuer, Strafrechtsausbau usw. als Druckmittel. Nach Praxislockerungen Ende der 1850er Jahre brachte erst das Reichspressegesetz vom 17.5.1874 eine liberalere Regelung ohne Präventionsrechte gegen inländische Organe, ja eine „neue Epoche“ der Entfesselung der Massenkommunikation. *33 Der Markt wuchs gewaltig dank einer „Leseexplosion“ durch bessere allgemeine Bildung und Alphabetisierung; die Rate lag z. B. in Preußen um 1800 bei 60% der Bevölkerung, um 1850 80% und um 900 bei rund 100%, bei Verdoppelung der Bevölkerungszahl. *34 Das Wachstum wurde zudem ermöglicht und beschleunigt durch die neuen Maschinenschnellpressen seit den 1820er Jahren und die Rotationsdruckmaschinen seit den 1880er Jahren. *35

Das alles wirkte auch auf die mehr „populären“ juristischen Periodika. Zumal „volksthümliche“ juristische Blätter wie Elvers 1828 und der „Gerichtssaal“ 1849 (s. sogleich) standen der Politik und damit größeren Lesekreisen ja eher nahe. Den immer wieder angeschlagenen Ton setzte bereits der junge Göttinger Professor Elvers 1828 in seiner Einleitung „Über die HauptTendenz dieser Zeitung“, d.h. der „Allgemeine juristische Zeitung“: *36

„Die Zeit der todten Stubengelehrsamkeit ist, wie in der Wissenschaft überhaupt, so auch in unserer Jurisprudenz  vorüber.” Man müsse “aus dem Leben schöpfen” für eine den “Verhältnissen unseres Volkes und unserer Zeit entsprechende Rechts-Gesetzgebung und Rechtspflege”, für “die wichtigsten juristischen Vorgänge des In- und Auslandes ein Sammelpunkt, ein Archiv der juristischen Zeitgeschichte“, für „kürzere Mitteilungen in wöchentlichen Nummern“.

In diesem Sinne werden drei Abteilungen angekündigt: 

„Die erste für die juristische Praxis … mit Kritiken neuer Gesetzgebungen, Erörterungen allgemein besprochener und interessanter Rechtsfälle, gedrängte Mittheilungen aus der Praxis der Gerichte und Anwalde, Anfragen über zweifelhafte Rechtsfälle nebst Versuchen einer befriedigenden Beantwortung derselben … .

Die zweite für die Theorie … wird den Gang der juristischen Literatur … zur Anschauung bringen, zugleich selbständig auf die wünschenswerthe Entwickelung der Theorie nach allen ihren Hauptseiten hin einzuwirken sich bemühen, und insbesondere auch durch Mittheilungen aus der statistischen, ethnographischen und historischen Jurisprudenz sowohl den Gesichtskreis der Theoretiker zu erweitern, als auch das theoretische Interesse der Praktiker zu beleben suchen. 

Die dritte für die Correspondenz- und Zeitungsnachrichten wird die wichtigsten und neuesten juristischen Vorgänge des In- und Auslandes mit Hilfe einer ausgebreiteten Corrrespondenz und mit Benutzung der vorzüglichsten Zeitschriften und Zeitungen … berichten …“ *37

Offenbar leiten hier ganz andere Absichten als beim „Archiv für die civilistische Praxis“ oder gar der „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“, aber auch als bei der 10 Jahre jüngeren „Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft“. Dort wird überall die Wissenschaft betont, wenn auch in unterschiedlichem Zugriff. Aber nirgends findet man den betont aktuellen, ja „zeitgeschichtlichen“ Akzent, die schnelle wöchentliche Folge und ein so breites, allgemein juristisch-politisches Zielpublikum. Elvers’ „Zeitung“ nannte sich bewusst und also mit Recht „Zeitung“. *38 Sie kann als Exempel stehen für eine populäre Variante im Rahmen der juristischen Organe, gekennzeichnet durch kurze Rezensionen, die Betonung von Übersicht, Berichten nur zu den zweifelhaften und erfahrungsträchtigen Punkten bei Rechtsfällen, usw. Die Politik war nahe – und so schließt Elvers, das Ganze diene nicht „politischen Discussionen“, aber doch „ernster besonnener Freimüthigkeit“. *39

Als ausnahmsweise langlebig erscheint hier nach dem Titel der „Gerichtssaal“. Gegründet wurde er ausdrücklich als eine „Zeitschrift für volksthümliches Recht“ seit 1849. Aber die Zeitschrift wird nach wenigen Jahren rechtspolitischer Prägung bald sehr praktisch-wissenschaftlich, siehe die Jahrgänge 1858 ff. *40 Die Zeitschrift „Gesetz und Recht“ bleibt wieder nur zwei Jahre populär, 1889/1890. Die Zeitschrift „Das Recht“, gedacht als allgemeine „Rundschau für den Juristenstand“ und zur Orientierung für eine juristische Hausbibliothek von Soergel seit 1897, wird bald immer juristischer. Populärer sind die sogenannten Gerichtszeitungen, die Wiener 1850–1931, die Berliner 1853–1867, die Preußische (1859) und dann Deutsche (1861). Trotz teilweise enormer Auflagen, wie die zuletzt 20.000 der Berliner *41 , sind sie eher kurzlebig. Eine populär gemeinte juristische Zeitschrift ging also nie in Führung, auch nicht etwa die „Blätter für populäre Rechtswissenschaft“ in Minden 1882/1883 von G. Freudenstein oder der „Deutsche Volks-Anwalt“, Leipzig 1880 von H. Schreps, oder auch die „Zeitschrift für populäre Rechtskunde für Männer und Frauen aller Stände“, Berlin 1900. *42

Eine echte Ausnahme bildet offenbar „Der Publicist. Eine Zeitschrift zur Besprechung gerichtlicher und polizeilicher Gegenstände, gesellschaftlicher und bürgerlicher Verhältnisse in Beziehung auf jene Gegenstände“, von A. F. Thiele in Berlin 1845–1872, sowie „Gesetz und Recht. Zeitschrift für allgemeine Rechtskunde“ von A. Langewort in Berlin 1900–1932. Vielleicht zählt hierher auch das Blatt „Rechtsschutz. Freisinniges Organ zur Belehrung und Aufklärung auf dem Gebiete des Rechtswesens“ durch J. Fränkel in Berlin 1879–1892. Nur drei Langläufer finden sich also seit 1789 – ein wahrhaft begrenztes Vorkommen.

Eine zusätzliche Erklärung außer den erwähnten rechtlichen, administrativen und ökonomischen Hindernissen auf diesem Felde findet sich zeitgenössisch angedeutet bei Kootz. *43 Er meint, die allgemeinen Zeitungen, Zeitschriften und Unterhaltungsblätter hätten diesen Markt der allgemeinen Vermittlung von Juristischem bereits besetzt gehalten. Sie boten allgemeine Spalten mit  Rechtsrat, dazu Juristensprechstunden, Personalia und merkwürdige Rechtsfälle und ähnlich allgemein Interessantes. *44 Spezieller Juristisches war daneben offenbar nicht unterhaltend genug und allgemeine juristische Aufklärung oder Belehrung fand kein ausreichendes Publikum mit Dauerinteresse – dafür gibt es dann auch besondere Fibeln und Ratgeber. Dieses Phänomen dürfte bis heute anhaltend charakteristisch sein.

Immer wieder populär waren dagegen die Merkwürdigen Rechtsfälle, das meint fast ausschließlich Strafrechtsfälle. Das Genre begann bekanntlich mit den Fallsammlungen des französischen Juristen Pitaval seit 1734, wurde ins Deutsche übersetzt schon 1747, dann prominent von Schiller 1792, setzte sich fort in Feuerbachs Sammlung „Aktenmäßiger Darstellung merkwürdiger Verbrechen“ seit 1808 und in dritter Auflage durch Mittermaier 1849. 1841 bis 1873 existiert ein „Wochenblatt für merkwürdige Rechtsfälle in Sachsen“, 1842 beginnt Hitzig in Berlin den neuen Pitaval, 1883 haben wir eine „Deutsche Gerichtshalle. Chronik interessanter Rechtsfälle“ in Berlin, dann die „Deutsche Criminal- und Gerichtszeitung“, Berlin 1887/88, den „Criminalreporter“, Hamburg 1891 ff., fortgesetzt als „Hamburger Gerichtszeitung“ 1893 bis 1914, dann die „Illustrierte Berliner Gerichtshalle“ 1892, den „Deutschen Pitaval“ als „Vierteljahresschrift für merkwürdige Rechtsfälle“ 1896, einen „Pitaval der Gegenwart“, Tübingen 1907 bis 1914 – diese Tradition scheint nie abzureißen bis hin zu den modernen Presseberichten, die sich wiederum und immer noch fast nur den Strafrechtsfällen widmen *45 , wie übrigens auch die sog. schöne Literatur. Diese Seite der Jurisprudenz wird also auch in den Periodika durch allgemeiner menschliche Interessen erobert.

(4)  Zuletzt bleiben die primär berufsständischen Zeitschriften, eine eher kleine aber doch auffallende Gruppe von ca. sechs Periodika seit 1850 (s. Tabelle 2 in V.). Es geht um die Zeitschriften nur der Richter, der Vollzugsbeamten, der Anwälte und Patentanwälte usw., die sich von den allgemeiner praktischen unterscheiden. Dazu gehört etwa eine „Zeitschrift des preußischen Amtsrichtervereins“ 1884 bis 1896, eine „Zeitschrift für Rheinisch-Deutsche Subalternbeamte“ 1890 bis 1900, oder die Zeitschrift „Erholungsstunden. Zeitschrift für preußische Justiz-Canzlei-Beamte“ 1895 bis 1902.

5. Brüche und Kontinuitäten

Was ergibt das Gesamtbild mit den vier Gruppen im Blick auf das Jahrhundert? Es stellt sich nun doch recht anders dar als vor 1850 und um 1820, dagegen sehr ähnlich dem Gesamtbild für nach 1900 bis heute. Es handelt sich also um einen Bruch zurück und eine Kontinuität nach vorn, den man epochal nennen kann nach den Dimensionen, dem Zuwachs an Praxisorganen und der starken Ausdifferenzierung. Denn vor 1850 gab es nicht nur viel weniger juristische Zeitschriften und Zeitungen überhaupt, sondern vor allen Dingen eine geringere Zahl von praktischen Zeitschriften und viel weniger Entscheidungssammlungen. Mehr Politisches ging damals mehr an die allgemeinen Zeitungen und Juristisches wurde auch noch sehr stark in den Allgemeinen Literaturzeitschriften abgehandelt *46 , also etwa in der Halleschen „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ 1785 bis 1849, in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung“ 1804 bis 1849, in der „Leipziger Literatur-Zeitung“ 1800 bis 1834, den „Heidelbergischen Jahrbüchern“ seit 1808, den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ seit 1753, den „Hallesche“ und „Deutsche Jahrbücher“ 1838 bis 1844, in denen bis 1842 Warnkönig, Bluntschli, Lorenz von Stein, R. Köstlin und andere Juristen auftraten *47 , den hegelianisch gegründeten Berliner „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik“ 1827 bis 1846 *48 oder der Berliner „Literarischen Zeitung“ 1834 bis 1849, in der etwa auch Puchta und Jhering schrieben. Dagegen kamen in den 1850er Jahren eine ganze Reihe von Rezensionsorganen auf, die dann 1859 in die Münchener „Kritische Vierteljahrschrift“ mündeten (bis 1944). Weitergreifend und ergänzend traten 1881–1913 A. von Kirchenheims „Centralblatt für Rechtswissenschaft“, 1889–1918, O. Loewensteins „Juristisches Literaturblatt“ und 1897–1944 das Münchener „Das Recht“ von Soergel hinzu. Alle zusammen versuchten, die literarische Explosion auch in der Jurisprudenz zu verarbeiten.

Ich breche die Vogelperspektive hier ab und wende mich der Frage zu, welche Zeitschriften nun die „führenden“ wären.

III. Die Höhenkammwanderung

1. Die Führungsfrage

Versprochen war auch eine Höhenkammwanderung. Leider lässt sich die „Höhe“ einer Zeitschrift nicht so leicht messen, wie die einer Landschaftserhebung. Das ist kein billiger Vergleich, sondern ein Hinweis auf einen sehr schwierigen Punkt. Denn wer soll hier wen eventuell führen? Und wohin? Was heute noch anhält als Periodikum, wie das „Archiv für civilistische Praxis“, das „Archiv für öffentliches Recht“ oder die „Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft“, muss keineswegs damals führend gewesen sein. Das wäre eine naive unhistorische Projektion. Was damals führend war, ist schwer überprüfbar, abgesehen von der Tatsache der Kurzläufer. Denn man müsste um das Echo wissen und das Echo einer Zeitschrift im Ganzen – und darüber wird kaum berichtet.

Auch ökonomische Indikatoren, wie Verkaufszahlen und Auflagen sind nur verstreut konkret erforscht. Lorenz bietet dazu einen Abschnitt, der ganz allgemein für 1852 von grob um die 1000 als Hauptfall ausgeht, er nennt aber keine Spezifizierungen für Recht. *49 Kirchner hat fallweise wertvolle Auflagenzahlen zusammengetragen, die ein Bild ergeben: so 2000 zum Heidelberger AcP und 1000 zur Gießener „Zeitschrift für Civilprozeß“ in 1850, nur 450 für die Münchener „Kritische Vierteljahrsschrift“ in 1859, 750 für Goldtammers Berliner „Archiv für Strafrecht“ und 1500 für das Darmstädter „Archiv für practische Rechtwissenschaft“ in 1867, dann 1000 für das „Archiv für … Allgemeines deutsches Handelsrecht“ von von Raule, Gerber und Busch in 1888, und schließlich, jeweils für 1889, 2900 für die anwaltliche „Juristische Wochenschrift“ seit 1872, 2200 für die ebenfalls wöchentlichen Wiener „Juristische Blätter“ auch von 1872, aber wieder nur 550 für das erwähnte „Centralblatt für Rechtswissenschaft“ seit 1881. *50 Das hält sich also alles in einem recht kleinen Fachspektrum bis hin zu einem etwas größeren Juristen-allgemein-Publikum. Die wirklichen Unterschiede werden erst drastisch und signifikant bei einem Blick auf die echten Zeitungs-Organe, etwa die „Berliner Gerichts-Zeitung“, die 1867 20.000 Stück auflegte. *51 Dieser Indikator lässt sich also nicht systematisch nutzen.

Und worin sollte eine solche Zeitschrift führend‘ sein, in welchem Bereich? Womöglich ist es jede Zeitschrift in ihrem Fach – zumal, wenn es keine oder wenig Konkurrenz gab. Und Konkurrenzlosigkeit war sogar die Regel bei den Langläufern. Entscheidend war es also, sich für eine längere Phase in einem Bereich durchzusetzen. Damit wurde eine Zeitschrift offenbar führend. Dies gilt in der Tat für etliche Zeitschriften, die wir ohne Weiteres als wichtig verbuchen. Dazu gehört etwa die „Zeitschrift für Rechtsgeschichte“ bzw. „der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte“. Sie war konkurrenzlos seit 1860 bis ca. 1980. Ebenfalls gehört hierher die „Zeitschrift für Bergrecht“ seit 1860; dann auch die „Zeitschrift für Handelsrecht“ unter Goldschmidt seit 1858, die jedenfalls für das allgemeine Handelsrecht auch gegen die erwähnte Konkurrenz von Raule/Gerber/Busch (1862–1888) führend wurde. Führend waren in diesem Sinne auch die „Zeitschrift für Kirchenrecht“ seit 1860, das „Archiv für Kriminalrecht“, dann „Goldtammers Archiv“ (1853–1933). Neben diesem etablierte sich allerdings seit 1881 die ‚modernere‘, d. h. sozialwissenschaftlich offenere „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ Franz von Liszts.

Analog gibt es führende partikularrechtliche Periodika, so z. B. das „Rheinische Archiv“ seit 1820, das Darmstadt-Hessische „Practische Archiv“ seit 1852, die Bayrischen „Blätter für Rechtsanwendung“ seit 1836, die „Hanseatische Gerichtszeitung“ seit 1860, die „Mecklenburgische Zeitschrift für Rechtspflege und Verwaltung“ seit 1882, das „Preußische Handelsarchiv“ seit 1847, die „Schleswig-Holsteinischen Anzeigen“ seit 1888 ff. und anderes mehr. Sie alle sind auf ihrem, freilich bisweilen nicht sehr großen, Felde führend – als Könige in ihrem Reich.

Die Führungsfrage muss also sehr differenziert beantwortet werden. Immerhin lässt sich sagen: In fast allen diesen Fällen gab es nicht viel parallele Konkurrenz. D. h. also in der Tat: Schon die etwas dauerhaftere Existenz einer Zeitschrift kann sie daher als irgendwie im Fach oder Territorium führend ausweisen. Daher werden hier in den Tabellen die Langläufer über mindestens 10 Jahre als Indikatoren für Wichtiges genommen. Das lässt sich auch mit einem Blick auf die besonders nach 1871 relativ vielen Kurzläufer stützen, die den Reichsgründungsboom nicht überlebten *52 . Wer überlebte, hatte sich also in Führung gearbeitet. Das wäre eine Antwort auf die Frage „führend“. Jede qualitative Wertung muss da zunächst beiseite bleiben. Denn auch ökonomisch erfolglose Kurzläufer können natürlich für die Rechtswissenschaft und -praxis, ja für die ganze Rechtskultur, sehr wichtig gewesen sein, so etwa die erwähnte „Zeitung“ von Elvers als erneutes Aufbruchsymptom in Richtung „Leben“, in einer sich 1828 wieder mehr öffnenden Diskussion, auch weitere der erwähnten „Zeitungen“ *53 als Vorboten, Frühlingsschwalben, Krisenkünder, Schwanengesänge usw. Dies wäre ein schönes, eigenes Feld für spezielle Analysen.

Inwiefern auch eine charakteristische Qualität in einer Zeit oder übergreifend vorlag, muss eigens qualitativ untersucht werden. Natürlich gibt es schlicht oberflächliche oder bloß berichtende oder politisierende Organe – aber das ist nicht das Problem. Diese Fragen lassen sich relativ leicht klären. Das eigentliche Qualitätsproblem zeigt ein anderweit vertrautes Beispiel: Es wäre gewiss eine recht naive Projektion, wollte man etwa Jherings „Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts“ (1857–1942) für besonders qualitätsvoll und führend erklären, weil darin 1860 der berühmte Aufsatz Jherings über „Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen“ stand. Der Aufsatz war für einen Romanisten gewiss originell, aber er war keine juristische Entdeckung überhaupt – wie oft behauptet wird. Denn das Regelungsproblem war längst bekannt und erwogen, etwa im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 (in I 5 § 285) und im Naturrecht. Das Problem gewann auch Zukunft nicht wegen Jherings ‚genialer‘ Weitsicht, sondern wegen des gar nicht vorhersehbaren Aufstiegs des sogenannten Vertrauensschutzes (im weitesten Sinne), also einer mehr sozialen als liberalen Haftungsentwicklung über die ursprünglichen engeren Verschuldenshaftungen im BGB (einschließlich § 831) und die im BGB ja präzise geregelten Jhering-Fälle hinaus. *54 Andererseits waren Jherings „Jahrbücher“ eine fast konkurrenzlos führende Zeitschrift für das geltende gemeine, besonders das römische Recht bis 1900. Also waren sie führend und nicht führend zugleich, je nachdem, wie man misst.

Ich lasse damit die Führungsfrage so stark differenziert im Raume stehen – sie erfordert sehr konkrete Kriterien und Maßstäbe und vor allem vergleichende Feststellungen. Dazu müssten Analysen im längeren Verlauf und vergleichend vorgenommen werden. Es müssten die Gründung, die Personen und Programme, die Durchführungen, die äußere Gestalt, das Methodenprofil, die Thementypik, das Berufsspektrum und die Erfüllung und der Erfolg des Programms geklärt werden. *55 Dafür gibt es eindrucksvolle Muster. So hat Heyen so durchdacht wie minutiös empirisch eine volle Erfassung und Auswertung alle Aufsätze usw. geleistet. Das Ergebnis widerlegt die damals sehr und immer noch stark vorherrschende Vorstellung von einer Dominanz der sog. juristischen Methode im öffentlichen Recht nach 1871 Die Dominanzvorstellung beruht – sehr kurz gesagt – auf einer Blickverengung auf bestimmte Professorentexte, die die Realität der damaligen Jurisprudenz nicht kennt und daher übergeht. *56 Der Methodengegensatz von juristisch versus staatswissenschaftlich erweist sich als stark überzeichnet und viel zu homogen gedacht. Eine klare Entwicklungstendenz dahin gibt es nach 1871 nicht. Geprägt wird das Methodenprofil vielmehr beruflich-institutionell unterschiedlich je nach Professoren, Richtern und Verwaltungsbeamten und dies sogar – aus heute gewohnter Zentralsicht – erheblich regional bedingt. *57 Es gab ja auch im öffentlichen Recht keine einheitliche Juristenausbildung. Als gemeinsam findet sich, dass alle Zeitschriften sowohl „wissenschaftlich wie handlungsanleitend“ für die Zukunft (bis hin zu ‚politischen‘ Elementen, die keineswegs marginal sind) sein wollen. *58

Für die anderen Rechtsbereiche fehlen ähnliche Untersuchungen für die Zeit nach ca. 1860.

2. Qualitätsniveau, Methoden und Literaturtypik

Lässt sich trotzdem etwas zur Charakteristik dieser vielen offenbar führenden Langläufer-Periodika sagen, die man finden kann? Ich meine ja – für einen heutigen Leser, der auch einige Periodika des frühen 19. Jahrhunderts und der Weimarer Zeit einigermaßen überblickt, fällt in der Tat etwas Gemeinsames auf. Es ist die hohe generelle Qualität. Damit ist zweierlei gemeint:

Zum einen herrschen eine besondere Gründlichkeit am jeweiligen Problem, intensiv genaue Ausarbeitungen, eindringende Argumentationen, wissenschaftliches Niveau, großer literarischer Apparat – also eine Verwissenschaftlichung. Sie wird auch indiziert durch die Entstehung und Zunahme spezieller juristischer Rezensionszeitschriften: zuerst, noch schleppend, das Tübinger „Critische Archiv“ 1801–1810, dann deutlich lebendiger Schuncks Erlanger „Jahrbücher“ 1826–1836, die Tübinger „Kritische Zeitschrift“ 1826–1829, Kinds Leipziger „Summarium“ 1832–1835 und Richters Leipziger „Kritische Jahrbücher“ 1837–1848. Dann mit vielfacher Kraft Arndts’ u.a. Münchener „Kritische Überschau“ 1853–1859, daneben die parallele Heidelberger „Kritische Zeitschrift“, und beide vereinigt zur dauerhaften Münchener „Kritischen Vierteljahrschrift“ 1860–1944. *59 Und schließlich nach 1881 stark verlagsgestützte Blätter mit großem Mitarbeiterstab wie das erwähnte „Centralblatt“, „Literaturblatt“ usw.

Zum anderen bemerkt man eine viel engere Verbindung bestimmter Methoden und Literaturtypen als heute. Man schreibt im Bereich Zivilrecht, anders offenbar als im Verwaltungsrecht, strenger dogmatisch oder historisch oder rechtspolitisch oder rechtsökonomisch oder rechtsphilosophisch – immer eng im Literaturtyp. Auch dies wäre selbstverständlich empirisch verläßlich auszuarbeiten. Es wäre jedenfalls aber eine Täuschung, bei dem Eindruck solcher Enge stehen zu bleiben – so sehr es zu unseren Vorurteilen über die sog. Begriffsjurisprudenz, die vielmehr eine ausgeprägte Prinzipienjurisprudenz war, und dies in bestimmten Themen- und Berufssektoren, passen würde. *60 Denn ein und dieselben Autoren arbeiten sehr oft in mehreren dieser methodisch getrennten Bereiche gleichzeitig. Zum Beispiel schrieb ein Savigny dogmatisch, historisch, rechtspolitisch, gutachtlich und richterlich (etwa in: Besitz, System, Geschichte im MA, Beruf, Städteordnung, Rheinisches Recht und ALR 1818, Staatsrat, Kassationshof), ein Jhering dogmatisch, rechtspolitisch und rechtsphilosophisch (in: Jahrbücher, Literarische Zeitung, Geist, Zweck), ein Dernburg dogmatisch und rechtspolitisch (in: Pandekten, Preußisches Privatrecht, BGB-Kritik), ein Windscheid dogmatisch, aber auch rechtspolitisch und grundsätzlich (in: Actio, Pandekten, Reden, BGB-Fragen), ein Gierke umfassend historisch, streng dogmatisch, energisch rechtspolitisch und grundsätzlich (in: Genossenschaftsrecht, Deutsches Privatrecht, BGB-Kritik, Laband-Kritik), oder ein Lotmar besonders streng dogmatisch, streng historisch und streng „legislativ“ wie man es nannte (Arbeitsvertragsrecht, Error, BGB- und ZGB-Kritik). Für Richter und Anwälte dürfte Ähnliches gelten; mit regionalen Prägungen ist freilich wie zum Verwaltungsrecht zu rechnen.

Darin, in diesem Stil der Beiträge, hat sich inzwischen viel geändert – man mischt die Zugriffe viel mehr. Dieses Mischen begann konkret in Weimar, hatte Hochkonjunktur nach 1933 u.a. in einer zivilistischen und strafrechtlichen sog. „Wertungsjurisprudenz“, wurde nach 1945 naturrechtlich und rechtsethisch fortgeführt und auch nach ca. 1960 keineswegs beiseite gelegt. *61 Kelsen hatte 1934 vehement dagegen geschrieben *62 – auch das machte ihn noch lange zur persona ingrata in Deutschland, Ost wie West. Das hat viel grundsätzlichen Kontext, etwa in Verfassung und Gesetzgebungspolitik, Philosophie und Wissenschaftstheorie, allgemeinen Ideologien und juristischen Standesideologien, und sehr viel methodische Bedeutung, etwa für Rechtsquellenlehre, Auslegungs- und Rechtsfortbildungslehre, Richterbindung, Rechtsstaatsverständnis, Gesetzgebungslehre usw. – auch dies kann hier aber nicht verfolgt werden. *63

Zurück vom Höhenkamm in die Ebene – welche Tendenzen, Bedingungen und Vergleichsaspekte lassen sich abschließend benennen?

IV. Einige allgemeinere Tendenzen, Bedingungen und Vergleichspunkte

1. Tendenzen

Zehn Tendenzen möchte ich zusammenfassend benennen:

(1) Die Periodika waren nach ca. 1820 generell die neuen Medien für die laufende wissenschaftliche Diskussion, nach den Dissertationen des 18. Jahrhunderts und neben den allgemeinen Literatur-Zeitungen wie der „Jenaischen“ oder der „Hallischen“ an der Wende um 1800 und bis in die 1840er Jahre.

(2) Die Periodika übernahmen eine starke Kommunikationsfunktion, immer deutlicher und geradezu explosionsartig nach 1871.

(3) Die auch und mehr praktischen Periodika und Entscheidungssammlungen überflügelten die enger wissenschaftlichen nach ca. 1850/60 quantitativ deutlich. Das war ein spezifisch neues Phänomen. Darin schlägt sich Mehreres nieder: zum einen, dass man sich dem positiven Recht und seiner neuen Fülle von Gesetzgebungsakten zuwenden musste und wollte. Zum zweiten wirkt die enorme Vervielfältigung der juristischen Berufe und Institutionen in Gerichten, Verwaltungen und Regierungen, aber auch in Vereinen der juristischen Berufsstände mit ihren berufsständischen Organen. Und drittens wirkt förderlich die allgemeine Verwissenschaftlichung auch der Praxis seit etwa den 1840er Jahren, wie erwähnt nach Qualitätsniveau, Methoden und Literaturtypik. *64 Nicht nur die Historische Rechtsschule, sondern auch die weniger historischen oder philosophischen und mehr dogmatischen Autoritäten wie Thibaut, Wächter, Vangerow u. a. hatten eine neue Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz durchgesetzt. Dies wirkte nun in die Breite. *65 Die Praxis wurde wissenschaftlicher. So blieb es im Kern bis heute – dieser Trend ist also zukunftsweisend und epochal. Heute kann man dazu freilich erkennen, dass die selbständige wissenschaftliche Prägung eher zurückgeht. *66 Für die Zeitschriften gilt das im übrigen analog. Ein kurzer Blick auch nur auf die äußere Entwicklung etwa des AcP seit 1900 im Vergleich mit dem Status um 1990 *67   genügt dafür. Die evidente Explosion der engeren Rechtsprechungs- und Praxisperiodika seit ca. 1990 gehört ebenso hierher wie die bemerkenswerte Verschulung in Ausbildungszeitschriften wie der ursprünglich, 1961, mit hohem Niveau gestarteten „Juristischen Schulung“. Neueste Neugründungen wie die Zeitschrift „Rechtswissenschaft“ (bei Nomos 2010) bestätigen diesen Wissenschaftsschwund, indem sie gegensteuern wollen. Grundsätzliches in und außer der Dogmatik, wissenschaftliche Prinzipienorientierung (wenn schon nicht -diskussion), Systemdurchdringung, methodisch haltbare Wertanalysen nach klar gesetzten Präferenzen statt Bekenntnissen, das scheint nicht die Signatur unseres juristischen Zeitalters. Die Zeitschriften waren und sind dafür die ergiebigsten Seismographen.

(4) Eine deutlich politische Trennung der Periodika lässt sich kaum feststellen – die vier erwähnten Gruppen (praktisch, wissenschaftlich, populär, berufsständisch) dominieren vor der Politik. Andere Gruppen sind nicht recht erkennbar, allenfalls noch die „amtlichen“ Periodika. Anders war dies etwa bei den ökonomischen und staatswissenschaftlichen Zeitschriften nach 1850. Schmoller kann sie in seiner Übersicht von 1885 ohne Weiteres nach freihändlerisch-liberal, staatssozialistisch-konservativ, staatssozialistisch-radikal und allgemein konservativ einteilen und beschreiben. Immerhin im Strafrecht kann man sagen, dass die Zeitschrift von Liszts auch einen Neuansatz einer wissenschaftlichen Schule bedeutete. Die Periodika spiegeln damit die ruhigeren juristischen Zeiten einer langen Gesetzgebungsperiode. Ausgesprochene Richtungsorgane wie die „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ von 1815 oder einige Zeit das AcP von 1818 oder der „Gerichtssaal“ als „Zeitschrift für volkstümliches Recht“ von 1849 finden sich nicht. Doch versuchte Grünhuts Wiener Zeitschrift 1874 mit dem Eröffnungsaufsatz von Adolf Merkel einen Neuansatz in Richtung allgemeine Rechtslehre *68 , von Liszt 1881 einen strafrechtlichen Neuansatz als sog. moderne Schule. Im Zivilrecht findet man erst 1914 die programmatische Zeitschrift „Recht und Wirtschaft“ *69 . Die Gründung der „Deutschen Richterzeitung“ 1909 kann als eine durchaus politisch-parteiische Standesaktion angesehen werden und erst recht dann die Sezession und Standesspaltung mit der Zeitschrift „Die Justiz“ in Weimar seit 1925. Besonders signifikant ist dann der politische Umschwung des Zeitschriftenwesens unter dem Primat der Politik 1933/34 *70 , der auch bisher ganz unbeachtete ökonomische Seiten hatte. *71 Die „Zeitschrift für Rechtsgeschichte“ war zu dieser Zeit längst kein Schulorgan mehr, ebensowenig das „Archiv für civilistische Praxis“ trotz Philipp Heck als seinem Leiter, „Der Gerichtssaal“ u. a.

(5) Die Thementypik lässt sich nicht wirklich überblicken – hunderte von Bänden wären daraufhin zu überprüfen, welche Themen (und Methoden dabei) herrschten, mehr praktische oder wissenschaftliche, wie praktisch und wie wissenschaftlich, welche Rechtsbereiche usw. Immerhin lässt sich zweierlei sagen: Zum einen war Spezialisierung angesagt, parallel zur aktiven und oft sehr speziellen Gesetzgebung, also vom Handelsrecht zum Bergrecht und zum Gewerberecht und (Sozial)Versicherungsrecht usw. Zum anderen tritt die Grundlagendiskussion merklich zurück. Rechtsphilosophie und grundsätzliche Rechtsgeschichte, also Rechtsgeschichte als große Entwicklungs- und Trendgeschichte, waren wenig verbreitet. Die Rechtsgeschichte bot kaum Zeitschriftenarbeit an großen Erzählungen‘. Diese steckten eher in den älteren Großwerken von Jhering über den „Geist des Römischen Rechts“ (1858 ff.) oder von Gierke über die „Genossenschaft des Deutschen Rechts“ (1868 ff.). Juristisch problemorientierte Rechtsvergleichung hatte sich zwar, nach einigen aufklärerisch-enzyklopädischen Anfängen, mit der legislativen Ausdifferenzierung abgeschlossener nationaler Rechtsysteme langsam seit den 1820er Jahren als „législation comparée“ etabliert, aber als Grundlagenreflexion und -beitrag übten sie erst Post, Kohler u.a. *72

Die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie verfügten überhaupt nicht über ein eigenes Periodikum – und dies schon seit den Jahren nach 1800. Erst 1907 wurde die Rechtsphilosophie neoidealistisch von Kohler und Berolzheimer neu aufgestellt mit dem „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“, dem Vorgänger des heutigen „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“. Die um 1870 bis 1917 wichtige „allgemeine Rechtslehre“ Merkels, Bergbohms, Bierlings, Somlós u. a. hatte sich kein eigenes Periodikum geschaffen. Vielleicht setzte sie zu wenig auf publizistischen Kampf. Jedenfalls war mit der Übernahme der Holtzendorffschen „Enzyklopädie für Rechtswissenschaft“ in der 5. Auflage 1907 durch Kohler ein allgemeiner neuer Akzent gesetzt. Kohler ersetzte dort den alten Einleitungsbeitrag von Merkel durch seine neohegelianischen Beiträge über Rechtsphilosophie und Universalgeschichte, das Thibaut-Gans’sche Programmwort von 1814 und 1824 aufgreifend:

„Zehn geistvolle Vorlesungen über die Rechtsverfassung der Perser und Chinesen würden in unseren Studierenden mehr wahren juristischen Sinn wecken, als hundert über die jämmerlichen Pfuschereyen, denen die Intestat-Erbfolge von Augustus bis Justinian unterlag.“ *73

(6) Methodische Neueinsätze inder Jurisprudenz prägten die Zeitschriftenwelt nach 1850 nicht dominant, Vielfalt herrschte durchaus, anders als 1815 die „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“, 1818 das „Archiv für die civilistische Praxis“ und 1829 die „Kritische Zeitschrift für die Rechtswissenschaft des Auslandes“. Diese trugen ihr Programm schon im Titel. In letzterer wurde freilich keine problemgeschichtlich-funktionale Rechtsvergleichung im heutigen Sinne betrieben, sondern vor allen Dingen Berichtsarbeit über Gesetzgebung in Europa. *74 Einen neuen Auftakt schienen die „Jahrbücher für Dogmatik“ von Gerber und Jhering 1857 und Bekkers „Jahrbuch des gemeinen Rechts“, ebenfalls 1857, zu bieten. Aber sie boten in Wahrheit recht orthodox gemeinrechtliche Abhandlungen, dogmatisch und historisch-dogmatisch. Die „Zeitschrift für Handelsrecht“ (seit 1858) spezialisierte ihr Themenfeld in eine mehr allgemeine Richtung gegenüber sonstigen Handelsrechtsorganen, sie blieb aber methodisch zeitgemäß und insofern konventionell. *75 Neues bringt die Rechtsvergleichung. Sie beginnt sich unter Bernhöft (seit 1878) neu zu etablieren als ausgesprochenes und empirisches Grundlagenfach. Kohler schreibt in diesem Sinne 1901 „Die vergleichende Rechtswissenschaft ist die Blüte der heutigen Jurisprudenz“ *76 – er meinte es anders als der mehr konkret-problemgeschichtlich orientierte Ernst Rabel, den man heute mehr verehrt. *77 Aber die Akten dazu können nicht geschlossen werden ohne empirische Untersuchung der Profile, für die die Muster ja bereit liegen.

Die Freirechtsbewegung um 1910 brachte es nicht zu einer eigenen Zeitschrift. Auch der sogenannte juristische Positivismus dieser Epoche schuf sich keine eigenen methodischen und Richtungsperiodika. Er hatte eher eine generelle, sensibilisierende Wirkung im Sinne einer konkreten, fachlichen Verwissenschaftlichung ohne Metaphysik und über die Dogmatik des geltenden Rechts hinaus. Sozialrecht, -politik und Arbeitsrecht hätten Anlass zu Neuansätzen geboten. Aber die ‚modernen‘ Seiten dieser Fächer, die immer auch das geltende Recht und seine Juristen provozieren konnten, wurden schnell eine Sache mehr der allgemeinen, dann sog. staatswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Zeitschriften aus den Federn neuer Gruppen, zwar auch mit Juristen, aber keineswegs dominant von Juristen geprägt. Hierher gehören zwar nach ca. 1890 große, auch juristische, Autoren wie Max Weber, Otto Gierke, Philipp Lotmar, Heinrich Rosin *78 u. a. Als Organe dafür entstanden aber vor allem der „Arbeiterfreund“ Viktor Böhmerts (seit 1873) 1863–1914, Holtzendorffs „Jahrbuch“ seit 1871, dann Gustav Schmollers dies weiterführendes „Jahrbuch für Gesetzgebung und Verwaltung“ seit 1882, Georg Hirths „Annalen für die Gesetzgebung des Deutschen Reiches“ 1868–1901, Heinrich Brauns „Archiv für soziale Gesetzgebung“ bzw. „für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ 1888/1904–1933 oder auch die „Soziale Praxis. Centralblatt für Sozialpolitik“ unter Ignaz Jastrow, Ernst Franke u.a. seit 1894/95. *79 Nicht die Juristen spielten hier die erste Rolle, sondern die Matadore der neuen Leitwissenschaft Nationalökonomie.

(7) Die meisten moderneren Themenbereiche und Zugriffe sind damit bereits um 1914 etabliert. So verfügen wir über Spezialorgane zum öffentlichen Recht, zum Völkerrecht, zum internationalen Recht, zur Rechtsvergleichung und seit 1914 auch zum Arbeitsrecht, auch zum Sozial- und Versicherungsrecht und schließlich zum Industrierecht 1907. Nur Grundrechts-Zeitschriften findet man nicht – das war offenbar vor 1914 und noch lange kein Thema bis in die europäische Epoche unserer Gegenwart.

(8) Die Periodika zeigen darin auch eine deutliche Profillinie von Rechtskulturphasen. Einer mehr wissenschaftlichen Prägung, durch Universitätsprofessoren und ihre Schüler getragen, folgt eine stark juristisch-praktisch getragene Periodikakultur zum geltenden Recht vor allem. Sie mündet in eine mehr politisch-polemische Phase nach 1919 in der Weimarer Zeit und einen ausgesprochen ideologischen Primat der Politik in der NS-Zeit sofort nach 1933, auch und gerade in den Zeitschriften.

(9) Als konkret tragende Faktoren des Periodikawesens lassen sich zwei Großgruppen benennen: zum einen die Professionen, also die Richter, Anwälte, Professoren, die Verwaltungsbeamten, Rechtspolitiker usw.; zum zweiten die Institutionen, also die Gerichte, Universitäten, Behörden, offiziellen, öffiziösen und privaten Berufsstandsvereine und anderen Vereine. Diese Faktoren schaffen Dauerdiskurse in den Periodika für jeweils ihre Belange, also die wissenschaftlichen, praktischen, populären und berufsständischen in den vier Gruppen.

(10) Im Gesamtbild hier sollte es auch um nationale, internationale und regionale Aspekte. gehen. Das nationale Element kommt nun in der Tat in ganz neuer Intensität zum Tragen. Schon seit 1800 wurden die Zeitschriften mit dem Übergang zu den nationalen Sprachen und Gesetzgebungen deutlich nationaler. Jedoch kann man nicht von ‚nationalistisch‘ reden. National war noch emanzipatorisch gegenüber der monarchischen Welt des Ancien Regime, die ihre Völker als Untertanen zählte. Eine Betonung des Deutschen setzt, wie gezeigt, massiv um 1871 ein. Zeitschriften zu Rechtsvergleichung (1878 ff.) und Völkerrecht (1907 ff.) indizieren dann schon eine internationale Konkurrenzebene. Davor war man lange noch in einer mehr ideellen, weltbürgerlichen Art international, je nach Fach. Die enorme Verwissenschaftlichung und Niveauverbesserung der deutschen Rechtswissenschaft insbesondere in den letzten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts hatte ohnehin dazu geführt, dass die deutsche Jurisprudenz zu einer internationalen Leitwissenschaft wurde – ganz ohne imperialen Aspekt. Erobert worden war diese Position durch Savigny, Thibaut, Feuerbach, Zachariae und viele andere, durch die Philosophie und die Naturwissenschaft seit Kant und Liebig – alles zwei Generationen vor dem aggressiveren allgemeinen Nationalismus der 1870er Jahre. Nicht zufällig redete Puchta 1840 und 1841 vom Römischen Recht als „Weltrecht“ *80 und Gustav Hugo 1788 vom Römischen Recht als „unser Naturrecht“ *81 , freilich ironisch gegen allgemeines Naturrecht, auch nicht national, sondern für vernünftiges positives Recht, wie er es im römischen Recht vorliegen sieht. Die alte ratio scripta war als allgemeine Vernunft verabschiedet, neue positivrechtliche Ansätze herrschten nun vor.

Bei Regional geht es um engere, aber doch national übergreifende, nicht bürokratisch bestimmte Bereiche. *82 Das bekannte Programm „Europa der Regionen“ meint dagegen föderale, staatliche Zonen. Immer noch sehr lebendig sind die deutschen Partikularrechtsregionen, die deutsche Vielfalt, der wieder interessante Pluralismus. Allerdings muss man diese Vielfalt wohl mehr als lokal, denn als regional bezeichnen. Regional übergreifend über die Staaten hinweg, in einem ökonomischen, kulturellen, rechtswissenschaftlichen oder rechtspraktischen Sinne, zeigt die Periodikawelt kaum etwas. Hier liegt wohl eine große Zukunft, insbesondere für Anregungen aus der allgemeinen Geschichte, etwa mit den Handelsregionen Nordosteuropa oder auch Ostseeraum *83 , Mittelmeerraum *84 , oder den kulturellen und ökonomischen Verbindungen am Oberrhein *85 und Niederrhein, zwischen Münsterland und Niederlanden *86 , oder vielleicht Finnland, Estland und Lettland – rechtlich verbindlich Übergreifendes kommt dabei freilich (noch?) kaum vor –, oder der rechtswissenschaftlichen Verbindung in einer gesamtskandinavischen Zeitschrift (seit 1888) *87 oder in baltischen Periodika *88 , oder der rechtspraktischen Verknüpfung dreier Handelsstädte im berühmten Lübecker Oberappellationsgerichtshof des 19. Jahrhunderts, oder eben dem Luxemburger EuGH und dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof des Europarats. Das so beliebt gewordene Europa orientiert sich freilich an Staaten und Verwaltungsgebilden und nicht an Regionen unabhängig von diesen. Und für die Regionen hat diese Zukunft noch kaum begonnen, sich in Forschungsfragen zu zeigen *89 und noch weniger in eigenen Periodika. Diese Seismographen schweigen dazu noch. Rechtlich dominieren die nationalen Grenzen. Instrumente wie freie Zweck- und/oder Planungsverbände wie im deutschen Kommunalrecht auch über Landesgrenzen hinweg wären übernational aufzusuchen – wenn es sie gibt. Treten aber die großen politischen Dissense und rechtlichen Abgrenzungen durch den Rahmen gemeinsamer Institutionen mehr und mehr zurück, so werden die Regionen und die sie bestimmenden, nicht mehr primär nationalen, Faktoren gewiß immer interessanter.

In Sachen international sind die ersten Forschungsschritte getan. Länderberichte wie in der Rechtsvergleichung liegen inzwischen etliche vor.  Ein bewusstes und faktorenbewußtes Vergleichen wäre die nächste Ebene. Sie ist noch sehr wenig beschritten. Das führt auf die Frage von Bedingungen und Vergleichspunkten.

2. Einige Bedingungen und Vergleichspunkte

Bedingungen und Vergleichspunkte zu benennen fällt leicht und schwer zugleich. Einige wesentliche Faktoren erscheinen inzwischen recht bekannt und nahezu banal: *90

Natürlich muß für blühende Periodika eine kritische Masse an Schreib- und Lesepublikum für eine fachliche oder weitergreifende Kommunikation vorhanden sein – das war im bevölkerungsreichen, mit der allgemeinen Schulpflicht zunehmend alphabetisierten und ausbildungsdichten deutschen Raum schon seit dem frühen 19. Jahrhundert bis 1900 immer mehr der Fall.

Natürlich konnten wissenschaftliche Zeitschriften nur blühen bei einer Mehrzahl von eigenständigen, konkurrierenden Rechtsfakultäten an Universitäten, zudem möglichst ohne judizielle Spruchtätigkeit – das war im föderalen deutschen Raum nach 1804 (Heidelberg) und 1810 (Berlin) zunehmend der Fall.

Natürlich kann solche Blüte nur mit vielen Vollzeitprofessoren und gelehrten Praktikern gut gelingen – auch das zeigt der Fall Deutschland deutlich.

Natürlich müssen sich Periodika ökonomisch tragen mit einer kritischen Masse von Abonnements und sind als Serie in Gewinn und Verlust empfindlicher als Bücher – das zeigte sich positiv wie negativ besonders klar im ökonomischen Gesamtaufschwung im größeren Markt nach ca. 1870 bis 1914.

Natürlich behindern konstitutionelle und politische Bedingungen wie Zensur, Gewaltenzentralismus, verschlossene Justiz, Meinungsverfolgung u.ä. besonders die Kommunikation in Periodika. Umgekehrt wird sie beflügelt durch Pressefreiheit, Gewaltenteilung, unabhängigere Justiz, Freigabe der Entscheidungsgründe, bürokratische oder parlamentarische Reformoffenheit u.ä. – dies war im deutschen Raum nach ca. 1858 (Neue Ära in Preußen) zunehmend und nach 1871 mit einem rechtstaatlichen Schub erst recht der Fall (Reichsjustizgesetze: GVG, StGB, StP0; 1874 Reichspressegesetz). Ein guter realitätsnaher Indikator ist hier die Aktivität der politischen Polizeien. *91

Natürlich begünstigte im 19. Jahrhundert ein allgemeines Reformklima besonders die noch weniger eng ausgebildeten Juristen – die Reformbürokratie im Südwesten und anfangs in Preußen war eine Juristenbürokratie, die Paulskirche war ein Juristenparlament. *92 Schon die Zeit nach 1859 (ADHGB 1861, Dresdener Schuldrechtsentwurf 1866, Gewerbeordnung 1869) war ein rechtspolitisch vielfach recht offenes Feld und erst recht die Reichsgründungszeit um 1870. Auch die Justiz war je nach Territorium und Personalpolitik lange ein keineswegs reaktionäres Feld.

Natürlich fördern sozialökonomische Faktoren wie eine starke Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung der juristischen Berufe die Vielfalt und Spezialisierung der Periodikawelt – auch das war in Deutschland zunehmend der Fall. Das Theorie-Praxis-Problem hat hier die sehr reale Seite, ob überhaupt jeweils eigenständige Trägergruppen existieren – vor allem im deutschen Raum war das neben der Gruppe der wissenschaftlichen Praktiker, wie sie in der Ersten BGB-Kommission seit 1874 dominierten, durchaus auch der Fall; anders etwa lange Zeit in Skandinavien *93 und England.

Natürlich musste es im Laufe der Industrialisierung zu speziellen Periodika für Marken- und Urheberrechtsfragen, für Bergrecht, Eisenbahnrecht, Gewerbe-, Fabrik- Arbeiterschutz- und Arbeitsrecht kommen – so im deutschen Raum. *94

Natürlich spielt, wie erwähnt, der Stand der Druck-, Transport- *95 und Verlagstechniken eine große Rolle – im deutschen Raum war er durchweg relativ hoch.

Diese und gewiß noch andere Bedingungen und Faktoren verstehen sich. Schwieriger sind echte europäische Vergleiche. War Deutschland der Sonderfall, besser, der Fall *96 besonderer Wissenschaftlichkeit? Heyens genauer Vergleich mit dem französischen Verwaltungsrecht zeigt eher Gemeinsamkeiten. Andererseits spricht manches für Sonderfall; so entstanden die mehr wissenschaftlichen Periodika in Skandinavien, England, Schottland und Frankreich nach deutschen Mustern. *97 Es käme also auf genauere Vergleiche an. Sie müssten auf durchgehenden Kriterien, wie sie soeben genannt wurden, oder stets etwas riskanten Sekundärauswertungen beruhen. Die erste Voraussetzung fehlt, da die bisherigen Pionierforschungen freudig pluralistisch vorgehen und damit zu wenig homogen. Sekundärauswertungen würden lohnen. Das wäre dann die nächste Expedition in gleich mehrere Dschungel.

V. Tabellen 1800–1900 in vier Gruppen

Es folgen nun die vier Übersichtsgruppen, in fünf Tabellen gesammelt, wie oben unter II.3 erläutert und abgegrenzt. Der Aufwand erschien nicht zu hoch. Denn jede Synthese beruht auf Selektion und Konstruktion, erst recht so starke Synthesen wie hier. Wenn irgend möglich, müssen solche Selektionen abgefangen werden durch Anschauung – eine Frage des Respekts vor den Quellen und den mitdenkenden Lesern. Jedenfalls ein gutes Stück dieser Anschauung bieten die nachfolgenden Tabellen, die alle auffindbaren Langläufer mit mindestens 10 Jahren Erscheinen enthalten. Sie lassen sofort recht gut die Gründungswellen, die Quantitäten und die föderal geprägte Vielfalt erkennen. Nennungen mit Stern * sind nicht in Kirchners Bibliographie enthalten.

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pp.19-39