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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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Penal Law Reform and New Penal Law: Estonia in Europe

VIII/2003
ISBN 9985-870-17-4

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Europäisches Strafrecht – Legitimation und Zukunftsperspektiven

Der Internationale Strafgerichtshof, dessen schwierige Geburt und kontroverse Reichweite in diesen Tagen die Diskussionen beherrschen, bildet dabei nur ein, allerdings prominentes Beispiel für die Inter­natio­nalisierung des Strafrechts; seine Existenz macht deutlich, daß jedenfalls der größere Teil der Völker­gemeinschaft entschlossen ist, einige schwerste Verbrechen gegen die gemeinsamen Werte aller Staaten ohne Rücksicht auf nationale Vorbehalte zu verfolgen. Ein anderer, zunächst weniger spektakulärer Bereich der Internationalisierung des Strafrechts hat mit dem Zusammenwachsen der Europäischen Union zu tun. Bei ihm steht die Frage im Vordergrund, ob und in welchem Maße die in der Europäischen Union miteinander verbundenen Staaten bereit sind, auch ihre Strafgewalt an die Gemeinschaft zu übertragen oder sich auf strafrechtlichem Gebiet jedenfalls verbindlichen Vorgaben von seiten der Gemeinschaft zu unterwerfen.

1. Entwicklungsstand eines Strafrechts der Europäischen Union

Ursprünglich lag die Begründung einer Kompetenz für die Verhängung von Kriminalstrafen bekanntlich weit außerhalb dessen, was man sich für die Organe der Europäischen Gemeinschaften vorstellen konnte und wollte. Zwar kann die Kommission der EG schon seit den sechziger Jahren hohe Bußgelder gegen Unternehmen verhängen, die gegen das Kartellrecht der EG verstoßen, indem sie etwa unerlaubte Preis­absprachen treffen; man hat diese Sanktionsbefugnis aber bewußt schon terminologisch von den Strafen des Kriminalrechts getrennt *1 und so zum Ausdruck gebracht, daß die eigentliche Strafgewalt – im Sinne der Verhängung von Sanktionen, die mit einem ethischen Unwerturteil über menschliches Verhalten verbunden sind – ausschließlich bei den Nationalstaaten verbleiben soll.

Die Nachteile dieser zunächst allgemein konsentierten Politik zeigten sich, als sich im Laufe der Jahre Verstöße gegen die finanziellen Eigeninteressen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mehrten. In den Fällen, in denen Täter Subventionen der EG durch falsche Angaben erschwindelten oder Abgaben hinterzogen, die der EG zugute kommen sollten, war die Gemeinschaft in Ermangelung eigener Strafgewalt darauf angewiesen, daß die Mitgliedstaaten die Täter selbst nach ihrem Strafrecht zur Verantwortung zogen. Dies scheiterte in manchen Fällen daran, daß in den Staaten schon gar keine Strafvorschriften zum Schutz von EG-Interessen vorhanden waren; und selbst wenn solche Regelungen existierten, wurden Straftaten zum Nachteil der fernen Brüsseler Institutionen in manchen Staaten mangels eigenen Interesses gar nicht oder nur sehr lax verfolgt. Dem trat zunächst, in dem bekannten Fall des griechischen Maisskandals *2 , der Europäische Gerichtshof unter Hinweis auf die allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue entgegen, und entsprechend seinen Vorgaben wurden durch den Vertrag von Maastricht alle Staaten ausdrücklich verpflichtet, Verstöße gegen die finanziellen Interessen der EG mit effektiven und abschreckenden Sanktionen zu belegen und mit gleicher Intensität zu ahnden wie vergleichbare Straftaten gegen innerstaatliche Interessen. *3

Damit war aber zunächst nur ein äußerer Rahmen von Mindestverpflichtungen geschaffen, der der Kommission ersichtlich nicht genügte, um einen flächendeckenden Schutz der finanziellen Interessen der EG in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu gewährleisten. Als problematisch wurde insbesondere der Umstand angesehen, daß sich die (möglicherweise) einschlägigen Straftatbestände in den Strafgesetzbüchern der einzelnen Mitgliedstaaten nicht unerheblich voneinander unterscheiden; so weist etwa der hier zentrale Tatbestand des Betruges im deutschen und im französischen Recht unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen auf. *4 Da der Europäischen Gemeinschaft die Kompetenz zur Schaffung von Straf­normen fehlte, man aber an einer Vereinheitlichung des Rechts auf diesem Gebiet interessiert war, wurde im Jahre 1995 ein Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft geschlossen, das einheitliche Tatbestände und auch einige Regelungen zum Allgemeinen Teil enthält und alle Mitgliedstaaten zur Verabschiedung entsprechender Vorschriften in ihrem jeweiligen nationalen Recht verpflichtet. *5 Dieses Übereinkommen ist von den Mitgliedstaaten nur sehr schleppend ratifiziert worden; es ist jedoch damit zu rechnen, daß es in naher Zukunft in Kraft treten kann. Wenn dies geschehen ist, gibt es jedoch immer noch keinen „automatischen“ Schutz der Finanzinteressen der EG, sondern die Ver­pflich­tungen aus dem Übereinkommen müssen von den jeweiligen nationalen Gesetzgebern in ihr Recht umgesetzt und Verletzungen von EG-Interessen müssen innerhalb der nationalen Strafrechtssysteme aufgeklärt, angeklagt und abgeurteilt werden. Dieser umständliche Weg der Implementation enthält, wie man sich vorstellen kann, eine Vielzahl von Hürden, an denen eine effektive Ahndung im Einzelfall scheitern kann.

Die Kommission der EG hat deshalb neben ihren Bemühungen um die Verabschiedung des Übereinkommens stets das Ziel im Auge behalten, eine zentral gesteuerte Strafverfolgung von Verstößen gegen die finanziellen Interessen der EG zu ermöglichen. Zu diesem Zweck berief sie zunächst eine hochkarätig besetzte internationale Arbeitsgruppe aus renommierten Strafrechtlern unter der Federführung der Pariser ProfessorinMireille Delmas-Martyein, die das Modell einer europaweit harmonisierten Gesetzgebung zur Verfolgung von Delikten zum Nachteil der EG entwerfen sollte. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist das im Jahre 2000 in überarbeiteter Fassung vorgelegte „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union“. *6 Dieser Entwurf enthält, ähnlich wie das erwähnte Übereinkommen von 1995, zunächst Definitionen einiger Straftaten, die gegen Interessen der EG gerichtet sind: neben der Hinterziehung von Abgaben und dem Erschleichen von Subventionen mittels falscher Angaben die Bestechung von Bediensteten der EG, Amtsuntreue durch solche Bedienstete sowie Geldwäsche bezogen auf Erträge aus den eben genannten Straftaten. Darüber hinaus enthält das Corpus Juris einen weitgehend ausgearbeiteten Allgemeinen Teil, der beispielsweise Regelungen über subjektive Voraus­setzungen der Strafbarkeit, über Täterschaft, Teilnahme und kriminelle Vereinigung, ferner über Versuch und Vorgesetztenverantwortlichkeit sowie über die Strafbarkeit juristischer Personen umfaßt. In einem dritten Teil sieht das Corpus Juris schließlich einen Mechanismus zur einheitlichen Durchsetzung der Strafnormen vor. Dabei konnte man sich allerdings nicht zur Einführung eines europäischen Strafgerichtshofs entschließen, obwohl dies möglicherweise die konsequenteste Fortführung des Gedankens einer (materiell begrenzten) europäischen Strafrechtsordnung wäre; statt dessen wird aber die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vorgeschlagen, die zentral geleitet in allen Mitgliedsländern zur Ermittlung und Verfolgung von EG-relevanten Verstößen tätig wird und so für eine einheitliche, straffe Durchsetzung der Strafvorschriften vor den nationalen Gerichten sorgen soll.

Obdie Vorschläge des Corpus Juris schon unter dem geltenden Europarecht, speziell nach Art. 280 Abs. 4 EG-Vertrag verwirklicht werden könnten, ist umstritten, da Satz 2 dieser Norm ausdrücklich vorsieht, daß die Maßnahmen des Rates zur Bekämpfung von Betrügereien die jeweilige nationale Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten und die Anwendung ihres Strafrechts unberührt lassen. *7 Auch die Kommission selbst ist inzwischen offenbar der Auffassung, daß das geltende europäische Primärrecht eine Verpflichtung zur Schaffung bestimmter (echter) Strafvorschriften sowie das Tätigwerden einer Europäischen Staatsanwaltschaft in den Mitgliedsländern nicht autorisiert, und strebt deshalb eine Ergänzung des EG-Vertrages durch einen neuen Artikel 280a an, der ebendiese Regelungen explizit enthalten soll. Zur Vorbereitung und Absicherung dieser Initiative, die offensichtlich auf der politischen Ebene des Rates noch auf einige Vorbehalte stößt, hat die Kommission Ende 2001 ein Grünbuch *8 vorgelegt, das die wichtigsten Grundsätze der angestrebten Regelung enthält und zur Zeit in den Mitgliedstaaten sowie auf europäischer Ebene diskutiert wird.

Das ist aber noch nicht alles. Neben den Bemühungen um einen europaweit übereinstimmenden und effektiv gestalteten strafrechtlichen Schutz ihrer Eigeninteressen – also um ein in seiner Materie noch begrenztes Vorhaben – verfolgt die EG langfristig das Ziel, große Bereiche des Strafrechts im europäischen Rechtsraum weitgehend „harmonisch“, d.h. inhaltlich übereinstimmend zu gestalten und (konsequenterweise) gleichzeitig die notwendigen Mechanismen für eine ebenso „harmonische“ effiziente Rechtsdurchsetzung zu schaffen. Dieses Ziel kann nicht im Rahmen der „1. Säule“ der Europäischen Union erreicht werden, da sich diese ja nur auf gemeinsame wirtschaftliche Interessen (im weitesten Sinne) bezieht. *9 Weitere Möglichkeiten bestehen jedoch innerhalb der 3. Säule, der gemeinsamen Justiz- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union.Hier schafft Art. 31 lit. d des Amsterdamer Vertrags über die Europäische Union die Grundlage für das Streben nach unionsweiter Harmonisierung bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Terrorismus und Drogenhandel. Innerhalb der 3. Säule gibt es zwar keine Verordungskompetenz der Kommission, sondern hier können „nur“ die Instrumente intergouvernementaler Zusammenarbeit eingesetzt werden. Durch Rahmenbeschlüsse des Rates, die im Ergebnis ebenso verbindliche Wirkung für die Mitgliedstaaten haben wie Richtlinien, besteht jedoch auch hier die Möglichkeit, auf die nationalen Strafrechtsordnungen in recht detaillierter Weise einzuwirken, um eine gemeinsame Linie bei der Bekämpfung bestimmter Deliktsbereiche durchzusetzen. Der Rat hat von dieser Möglichkeit in den letzten Jahren zunehmend Gebrauch gemacht, etwa durch Verabschiedung von Rahmenbeschlüssen zur Bekämpfung von Terrorismus, von Geldfälschung und von Geldwäsche *10 , und weitere Maßnahmen sind in Vorbereitung. *11

Betrachtet man nach diesem kurzen und keineswegs vollständigen*12  Überblick das politisch überaus dynamische Feld der Zusammenarbeit im Rahmen der 3. Säule gemeinsam mit den bereits erkennbaren Elementen eines materiellen europäischen Strafrechts zum Schutz der Gemeinschaftsgüter, so ergibt sich zwingend der Eindruck einer europäischen Strafrechtsordnung, die bereits über den status nascendi hinaus gediehen ist und sich in sehr raschem Wachstum befindet. Dieser Befund führt zu der Frage, wie es – jenseits des Problems der positivrechtlichen Fundierung dieser Tendenz im europäischen Recht – um deren materielle Legitimation bestellt ist.

2. Notwendigkeit des Europäischen Strafrechts

Hier ist zunächst ein Bedürfnis für den (auch sanktionsbewehrten) Schutz der finanziellen Eigeninteressen der EG grundsätzlich anzuerkennen, und darüber hinaus auch ein Bedürfnis für ein europaweit gleichermaßen effektives Schutzniveau. In mehrfacher Hinsicht stellt sich hier allerdings die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes von Strafrecht, und etwa gar von zwingend vorgeschriebenen Freiheitsstrafen, wie sie in dem ersten Entwurf des Corpus Juris für schwere Fälle von EG-Betrug vorgesehen waren. *13 So kann man durchaus zweifeln, ob die Androhung und Durchsetzung strafrechtlicher Sanktionen unter dem Aspekt des ultima-ratio-Prinzips zum Schutz der EG-Finanzinteressen erforderlich ist oder ob nicht zunächst die Möglichkeiten der Prävention, etwa durch genaue Überprüfung der von Antragstellern auf Subventionen eingereichten Angaben oder durch effektivere Zollkontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft, ausgeschöpft werden müßten, bevor man den bequemen Weg geht, das Informationsrisiko durch Strafvorschriften auf den Bürger zu verlagern. Problematisch ist aber auch die Angemessenheit des Einsatzes strafrechtlicher Instrumentarien, wenn man die tatsächliche Größe des Betrugsproblems in den Blick nimmt: Nach den offiziellen Angaben der Kommission betrug die Summe aller Schäden aus den im Jahre 1999 aufgedeckten Betrugsfällen 413 Millionen Euro – das ist sicher keine kleine Summe, aber doch weniger als 1% des EG-Haushalts. Bedenkt man, daß die EG es für nötig gefunden hat, in jedem einzelnen Mitgliedsland die Schaffung einer organisierten Juristenvereinigung zum Schutz ihrer Finanzinteressen zu veranlassen (und großzügig zu finanzieren), und daß sie mehrere Kommissionen allein mit der Frage der Strafrechtsharmonisierung im Betrugsbereich beschäftigt (und bezahlt), dann fragt man sich, ob die Lösung den europäischen Steuerzahler nicht vielleicht mehr kostet als das Problem selbst.

Aber der Bereich des strafrechtlichen Schutzes der Finanzinteressen der EG ist nur ein – trotz dieser Zweifel relativ unproblematisches – Randgebiet der europäischen Harmonisierungsbewegung. Rechtspolitisch entscheidend ist die Frage, ob sich eine Legitimation für die „Europäisierung“ des Strafrechts über den Selbstschutz der Organisation EG hinaus finden läßt, also für die europaweite Harmonisierung der unterschiedlichsten Materien von der Drogenkriminalität über die Geldfälschung und die Computer­kriminalität bis zum Menschenhandel, wie sie zur Zeit im Rahmen der 3. Säule in vollem Gange ist. Das Hauptargument der Verfechter dieser Bewegung, das der Sache nach auch dem Amsterdamer Vertrag über die Europäische Union zugrunde liegt, lautet: Die angemessene Antwort auf grenzüberschreitende Kriminalität ist grenzüberschreitendes Strafrecht. *14

Das Schlagwort „Strafrecht ohne Grenzen gegen Kriminalität ohne Grenzen“ ist plastisch und auf den ersten Blick auch plausibel; dennoch sind Zweifel angebracht. Denn die Spiegelbildlichkeit, die dieses Schlagwort insinuiert, ist bei näherem Hinsehen alles andere als evident. Zum einen kann man fragen, ob das Phänomen der grenzüberschreitenden Kriminalität tatsächlich eine Europäisierung des (gesamten?) Straf- und Strafverfahrensrechts notwendig macht, ob nicht der Ausbau, ja vielleicht sogar schon die effiziente Nutzung der (vielleicht allzu) reichlich vorhandenen Instrumente der internationalen Zusammenarbeit ausreicht, um die Hindernisse der nationalen Grenzschranken zu überwinden. Schon nach dem heutigen Stand des Rechts besteht doch das Problem in aller Regel nicht darin, daß (organisiertes) sozialschädliches Verhalten in dem einen oder anderen Mitgliedstaat der EU nicht strafbar wäre, so daß „Strafbarkeitsoasen“ bestünden – im Gegenteil, wer sein verbotenes Tun über die Grenzen eines Landes hinaus ausdehnt, muß eher damit rechnen, deshalb in mehreren Staaten gleichzeitig oder nacheinander wegen einer Straftat verfolgt zu werden, als daß er in Europa auf einen sicheren Hafen der Straflosigkeit hoffen dürfte. Probleme bereitet allenfalls die Abgrenzung und nötigenfalls Abstimmung der Zuständigkeiten zwischen den Strafverfolgungsorganen verschiedener Staaten, die zügige Übermittlung von Informationen, die unkomplizierte Leistung von Amtshilfe und eventuell auch die Verwertung von Beweismitteln, die in einem Staat nach dem dort geltenden Prozeßrecht gesammelt werden, in einem Nachbarstaat. Diese Probleme, soweit sie denn bestehen, werden aber durch eine Vereinheitlichung des materiellen Strafrechts nicht gelöst. Hier könnte allenfalls eine Harmonisierung der nationalen prozeßrechtlichen Normen oder in letzter Konsequenz die Schaffung einer europäischen Strafgerichtsbarkeit helfen.

Im übrigen beweist das Bild von der „Strafverfolgung ohne Grenzen“ auch zuviel. Nimmt man an, daß manche Arten des Verbechens heute tatsächlich keine Landesgrenzen mehr kennen – und das ist etwa für Drogen- und Menschenhandel oder auch für cyber crime durchaus plausibel –, dann reicht die Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums, der auf West- und Mitteleuropa begrenzt ist, nicht aus. Denn diese Delikte machen auch vor den Außengrenzen der Europäischen Union nicht Halt, sondern sind – im Gegenteil – typischerweise gerade dadurch charakterisiert, daß sie diese Grenzen gezielt überwinden. Wollte man mit der Spiegelbildlichkeit zwischen der Erstreckung des Verbrechens und der Reichweite der Strafverfolgung Ernst machen, so müßte der gemeinsame Rechtsraum also bis weit nach Asien, Afrika und Lateinamerika reichen, müßte die Globalisierung (auch) des Verbrechens in letzter Konsequenz also zur Utopie eines Weltstrafrechts führen.

Allerdings könnte das Bemühen um ein harmonisiertes europäisches Strafrecht auch auf eine ganz andere Grundlage gestellt werden: Nicht eine von außen, nämlich von der transnationalen Kriminalität auf­gezwungene Notwendigkeit, sondern der Wunsch nach einer Optimierung des Strafrechts durch eine gemeinsame Anstrengung der besten strafrechtlichen Köpfe des Kontinents könnte Quelle und Ansporn der Vereinheitlichungsbestrebung sein. Die verschiedentlich ventilierte Idee eines europäischen Modell­strafgesetzbuchs *15 läßt sich in dieser Weise interpretieren. Die Arbeiten an einem solchen Gesetzbuch könnten nicht in erster Linie das Ziel verfolgen, eine europaweit verbindliche einheitliche Strafrechtsordnung zu schaffen, sondern es könnte – ähnlich wie bei dem US-amerikanischen Model Penal Code von 1962 – darum gehen, durch Bündelung der in Europa vorhandenen Erfahrungen und Reformideen ein Vorbild für nationale Gesetzgebungen zu entwickeln, das durch die Qualität seines Inhalts zur (vollständigen oder teilweisen) Übernahme verlockt und nicht den Mitgliedstaaten durch Oktroi der europäischen Instanzen aufgezwungen wird.

Diese Idee klingt attraktiv und spannend.Ob sie auch praktisch erfolgreich werden kann, hängt jedoch wesentlich davon ab, in welchem organisatorischen und institutionellen Kontext man sie verwirklicht. Die Problematik einer Kodifikation mit vorgegebener Zielsetzung macht das Corpus Juris nur allzu deutlich: Man hat es dort zwar weitgehend vermieden, gerechtigkeitsbezogene Differenzierungen der nationalen Rechtsordnungen auf dem Prokrustesbett der Rechtsvereinheitlichung auf einen allerkleinsten gemeinsamen Nenner zurechtzustutzen. Unverkennbar ist jedoch die Tendenz des Corpus Juris zu einer immer weiteren Ausdehnung des Strafrechts, bei der die gegenläufigen Freiheitsinteressen des Bürgers außer Betracht, zumindest stark unterbelichtet bleiben. Charakteristisch sind etwa die Expansion des fraud-Tatbestandes (Art. 1 CJ), die Vorfeldverlagerung der Strafbarkeit durch einen weiten conspiracy-Tatbestand (Art. 4 CJ) sowie die umfassende Inkriminierung jeglicher Schadenszufügung durch EG-Bedienstete durch die unbestimmten Vorschriften des Amtsmißbrauchs (Art. 6 und 7 CJ). Die Tendenz zur Ausdehnung des strafbaren Bereiches ist dabei kein Zufall, sondern liegt gewissermaßen in der Natur der Sache. Denn der Auftrag der Arbeitsgruppe für die Schaffung des Corpus Juris lag gerade darin, einen möglichst umfassenden Schutz der Interessen der EG zu ermöglichen; allgemeine rechtsstaatliche Grundsätze können dann allenfalls Randkorrekturen gegenüber der dominierenden „Funktionalität“ *16 bewirken, die ex hypothesi durch eine Ausdehnung der Inkriminierung nur gesteigert werden kann. *17

Wenn man sich an das Experiment eines europäischen Modellstrafgesetzbuchs wagt, sollte man eine derartige einseitige Festlegung auf ein bestimmtes Schutz-Ziel vermeiden. Kriminalpolitischer Leitstern sollte nicht die maximale Schutzeffizienz für bestimmte Interessen sein, sondern die Frage, welche Verhaltensweisen dermaßen sozialschädlich sind, daß sie nur mit den (auch symbolträchtigen) Mitteln des Strafrechts bekämpft werden können. Hierbei wird man von den traditionellen Tatbildern (z.B. Betrug, Diebstahl, Bestechlichkeit) auszugehen haben, die einen definierbaren Unrechtskern besitzen; diese Tatbestände kann man dann behutsam auf neue Sachverhalte anpassen, bei denen sich der Täter zur Schädigung anderer Menschen (oder der Allgemeinheit) neuer technologischer Möglichkeiten bedient. Wenn man so vorgeht, bekommt man von vornherein eine andere Perspektive: Man fragt nicht danach, wie man für bestimmte, vage definierte Interessen einen Rundum-Schutz schaffen kann, sondern danach, welche Verhaltensweisen wegen ihrer schädlichen Wirkung für einzelne oder die Allgemeinheit so wenig zu tolerieren sind, daß sie mit dem schärfsten Mittel der Gemeinschaft unterdrückt werden müssen. Aus dieser Perspektive gewinnt auch der ultima ratio-Gedanke an Bedeutung: Man ergreift nicht sogleich das scheinbar effektivste Mittel des Strafrechts, sondern bezieht auch und vordringlich andere Methoden der Schadensprävention in die Überlegungen ein.

3. Grundsätze des Europäischen Strafrechts

Nur noch kurz möchte ich abschließend auf die Frage eingehen, welche Grundsätze – neben dem gerade erwähnten der Subsidiarität – einem „europäischen“ Strafrecht zugrunde zu legen sind.

Zu nennen ist hier zunächst der Gesetzlichkeitsgrundsatz. Dessen institutionelle, gewaltenteilende Kom­ponente, also die Entscheidungsprärogative des gesetzgebenden Organs über die Grenzen zwischen Straf­barem und Straflosem, spielt bisher auf europäischer Ebene keine Rolle, da dort die Rollen von Gesetz­gebung und Exekutive anders verteilt und weniger streng getrennt sind als in einem „normalen“ demokrati­schen Staatswesen. Von Bedeutung bleibt jedoch der Vertrauensschutz-Aspekt des Gesetzlich­keitsgrundsatzes, der insbesondere die analoge und die rückwirkende Anwendung von Strafnormen zu Lasten des Angeklagten verbietet. Auch der im Strafrecht traditionell streng gehandhabte Bestimmtheitsgrundsatz besitzt eine individualschützende Komponente: Präzise gefaßte Verbote lassen einen weiten Freiheitsraum bestehen, und umgekehrt. Schon deshalb müssen europäische strafrechtliche Verbote und Gebote ebenso wie Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe in möglichst präziser Weise normiert werden.

Als ein wesentliches Gestaltungselement des Allgemeinen Teils wird vielfach auch der Schuldgrundsatz angesehen. Dessen Grundlage ist freilich ebenso zweifelhaft wie sein genauer Inhalt. Letzterer besteht wohl darin, daß niemand für ein Verhalten bestraft werden darf, für das er nicht verantwortlich ist – wobei schon diese Formulierung die offene Flanke des normativen Maßstabs der Verantwortlichkeit offensichtlich werden läßt. Verschiedene europäische Rechtsordnungen sehen denn auch Ausnahmen von der Geltung des Schuldgrundsatzes vor, die offen mit der erhöhten Abschreckungswirkung solcher zugleich beweiser­leichternder Regelungen begründet werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte läßt solche Ausnahmen zu, sofern eine Gegenausnahme für Fälle höherer Gewalt vorgesehen ist. *18 Dennoch sollte man bei einem europaweiten Strafrecht nicht den schlechten Beispielen folgen, sondern den Schuldgrundsatz klar durchhalten, auch wenn der Nachweis von Vorsatz oder gegebenenfalls Fahrlässigkeit schwierig ist.

Selbst ein solches grundsätzliches Bekenntnis zum Schuldgrundsatz ließe noch viele Fragen offen – insbe­sondere die oben schon angesprochene, unter welchen Umständen jemand als „für seine Taten verantwortlich“ anzusehen ist, aber auch die Frage der (formellen oder faktischen) Beweislast für Umstände, die die Verantwortlichkeit ausschließen. Bei einer vergleichenden Betrachtung dieses Problems wird man rasch feststellen, daß jedenfalls die spezifisch deutsche strenge Ausprägung des Schuldgedankens (Anerkennung von Notstand und in vielen Fällen von sonstiger Unzumutbarkeit als Entschuldigungsgrund, weitreichende Entlastungswirkung von unverschuldeten Fehlvorstellungen, keine Beweislastverschiebung auf den Ange­klagten) europäisch gesehen ein Schuldprinzip de luxe ist, das sich in dieser Form kaum allgemeinverbindlich durchsetzen lassen wird.

Mit dem Prinzip, daß man nur für Verhalten bestraft werden darf, für das man verantwortlich gemacht werden kann, hängt auch die Anerkennung von strafbarkeitsausschließenden Notrechten zusammen. Die Nichtbestrafung in Fällen von Notwehr oder Notstand gehört zwar als Prinzip zum europäischen All­gemeingut *19 , aber auch hier besteht im einzelnen Unklarheit über Grundlagen und Grenzen solcher Rechte. Als Grundlagen kommen sowohl der Gedanke der Güterabwägung (wie er etwa § 34 des deutschen StGB zugrundeliegt) als auch der Topos der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens in Betracht. *20 Der unangefochtene „harte Kern“ der Rechtfertigung dürfte hier bei den Fällen liegen, in denen der Täter – sei es, daß er rechtswidrig angegriffen wird, sei es, daß er in einer existenziellen Notlage eingreift – ein wichtiges rechtlich geschütztes Interesse verteidigt und dafür notwendigerweise ein anderes, allenfalls gleichwertiges Interesse preisgeben muß. Ob und in welchem Umfang auch bei fehlender Rechtsgüterproportionalität die (etwa aufgrund persönlicher Betroffenheit bestehende) Unzumutbarkeit der Hinnahme von Einbußen die Begehung von Straftaten zu entschuldigen vermag, ist hingegen eine kriminalpolitisch sehr offene Wertungsfrage, für die verschiedene Lösungen gleichermaßen vertretbar sind.

Ein weiterer allgemeiner Grundsatz, auf den hier nur noch hingewiesen werden kann, ist das Gebot, zwischen verschieden schweren Formen der Deliktsverwirklichung (spätestens) auf der Ebene der Sanktionierung zu differenzieren. Dabei sind solche Lösungen vorzuziehen, die diese Differenzierung nicht dem Ermessen des strafzumessenden Richters überlassen, sondern sie bereits auf der Ebene der Normsetzung vorzeichnen. Differenzierungen sollten beispielsweise vorgenommen werden zwischen Täterschaft und bloßer Teilnahme*21 an einer Straftat, zwischen Vollendung und Versuch *22 sowie zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Deliktsverwirklichung.

Von entscheidender Bedeutung für Repressivität oder Liberalität einer gesamteuropäischen Strafrechtsordnung dürfte schließlich die Frage sein, ob sich Maßstäbe finden lassen, die für die Ausgestaltung, insbesondere für die Ausdehnung des Besonderen Teils verbindliche Vorgaben machen. Hier kommt in erster Linie der Ver­hältnis­mäßigkeitsgrundsatz in Betracht. Dieser Grundsatz erfreut sich auf europäischer Ebene all­gemeiner Zustimmung – Uneinigkeit besteht nur darüber, was er inhaltlich bedeutet. Der Europäische Gerichts­hof betont schon in seinem grundlegenden Urteil zum Griechischen Maisskandal, daß die nationalen Rechts­ordnungen für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen vorsehen müßten. *23 Dabei ging es dem Gerichtshof jedoch nicht, wie man annehmen könnte, darum, die Unrechts- (oder Schuld-) Proportionalität als Obergrenze der nationalen Sanktion festzulegen, sondern er wollte lediglich eine Bagatellisierung europarechtlicher Verstöße durch die Androhung unange­messen niedriger Sanktionen untersagen. *24

Tatsächlich könnte man jedoch mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes den Versuch unternehmen, die eigentliche Gretchenfrage (nicht nur) des modernen Europa-Strafrechts anzugehen, nämlich die Begren­zung der kontinuierlichen und weitgehend ungebremsten Expansion des Besonderen Teils. Wie eine solche Begrenzung aussehen könnte, läßt sich hier nur noch kurz andeuten. *25 Auszugehen wäre von der Feststellung, ob sich ein schützenswertes und schutzbedürftiges Individual- oder Allgemeininteresse *26 identifizieren läßt. Sodann wäre zu fragen, welche Verhaltensweisen dieses Interesse in unerträglicher Weise verletzen oder in konkrete Gefahr bringen. Hat man so die möglichen Kandidaten für eine strafrechtliche Inkriminierung identifiziert, wären die verschiedenen Aspekte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ins Spiel zu bringen, in­dem man fragt: (a) Sind Strafvorschriften geeignet, die schädlichen Verhaltensweisen zu verhüten? (b) Gibt es andere, nicht-strafrechtliche Mittel, um diesen Verhaltensweisen mindestens ebenso effek­tiv entgegen­zuwirken? (c) Steht der Einsatz des Strafrechts (auch mit Blick auf das Interesse, einer Entwertung der besonderen Mittel des Strafrechts durch allzu häufigen Gebrauch entgegenzuwirken) insgesamt in einem ange­messe­nen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel? Nur wenn man all diese Fragen bejahen kann, ist eine Neu-Inkriminierung (oder auch die Beibehaltung einer bereits bestehenden!) vor dem Verhältnis­mäßig­keitsgrundsatz legitimiert. Da das (im Sinne einer Begrenzung der staatlichen Strafbefugnis verstandene) Proportionalitätsprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch für die Organe der Europäischen Union gilt *27 , ließe sich dieses Instrument nicht nur im Rahmen rechtspolitischer Argumentation, sondern auch als handfester Maßstab für die Kontrolle der Zulässigkeit einer Ausdehnung des Strafrechts nutzen.

4. Zusammenfassung

Die Organe der Europäischen Union unternehmen zur Zeit kleine und größere, nicht in allem koordinierte Schritte in Richtung auf ein europäisches Strafrecht. Sie glauben damit pragmatisch vorzugehen, aber sie machen den zweiten (oder dritten) Schritt vor dem ersten, indem sie nach einzelnen Aktionsfeldern suchen, in denen sie Pflöcke europäischer Rechtsvereinheitlichung einschlagen können. Doch die Frage der materiellen Legitimation eines europäischen Strafrechts und damit auch seines legitimen Umfangs ist im wesentlichen noch ungeklärt. Hinsichtlich der Grund- und Grenzlinien eines Allgemeinen Teils lassen sich manche europaweiten Übereinstimmungen, zum Teil im Vokabular, zum Teil auch in der Sache feststellen; aber hinsichtlich der (für die Rechtsanwendung kritischen) Details bei der Umsetzung der „Großprinzipien“ gibt es noch viel Arbeit zu leisten. Die Zeit drängt – jedenfalls dann, wenn man nicht nur an nachträglicher Kritik und verspäteten Nachbesserungsversuchen, sondern an vorausschauender Planung eines Europäischen Strafrechts interessiert ist.

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pp.36-42