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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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Penal Law Reform and New Penal Law: Estonia in Europe

VIII/2003
ISBN 9985-870-17-4

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Aktuelle Probleme und Reformfragen des Sanktionenrechts in Deutschland

1. Defizite und Probleme des geltenden Sanktionenrechts

Das Sanktionensystem des deutschen Strafgesetzbuchs ist seit Anfang der siebziger Jahre im wesentlichen unverändert geblieben. Im Gefolge der beiden Strafrechtsreformgesetze von 1969 und 1975 *1 erlangten die Geld­strafe und die Strafaussetzung zur Bewährung erhebliche Bedeutung. Die Zahl der unbedingt verhängten Freiheitsstrafen sank von knapp 40% Pro­zent aller Verurteilungen im Jahr 1950 auf 6,4% im Jahr 2000. Als Alter­nativen zur Freiheitsstrafe stehen im wesentlichen nur die Geldstrafe und die Strafaussetzung zur Bewährung zur Verfügung. Die Geldstrafe macht seit der Reform Ende der 60er Jahre, als die kurze Freiheitsstrafe von bis zu 6 Monaten weitgehend zurückgedrängt wurde (vgl. § 47 StGB) jeweils ca. 82% aller gerichtlich verhängten Sanktionen, die Freiheitsstrafe zur Bewäh­rung 12% und die unbedingte Freiheitsstrafe – wie erwähnt – ca. 6% aus. Es existiert keine originäre Strafe der gemeinnützigen Arbeit, jedoch ist gemeinnützige Arbeit zur Abwendung einer Ersatzfreiheitsstrafe bei nicht zahlungsfähigen Geldstrafenschuldnern vorgesehen. Allerdings spiegeln die in den Strafverfolgungsstatistiken enthaltenen gerichtlichen Sanktionen nur die „halbe Wahrheit“ der Sanktionspraxis wieder, da sich in Deutschland seit 1975 ein differenziertes Sanktionensystem im Rahmen der sog. Diver­sion, d. h. der Ausnahme vom grundsätzlichen Verfolgungszwang (vgl. § 152 StPO), entwickelt hat. Gem. §§ 153 ff. StPO – hervorzuheben ist hier­bei insbesondere die Einstellung des Verfahrens in Verbindung mit Aufla­gen (§ 153a StPO) – werden gegenwärtig nahezu 50% (1999: 47%) der Fälle eingestellt. Auch bei den bedingten Einstellungen nach § 153a StPO ist die Geldauflage bei weitem die häufigste. *2 Rechnet man die Einstellun­gen im Wege der Diversion nach §§ 153, 153a, 153b StPO hinzu, d. h. nimmt man die Gesamtzahl aller potentiell sanktionier­baren Personen als Grundlage, so ergibt sich nur noch ein Anteil unbedingter Freiheitsstrafen von ca. 4%. Das geltende strafrechtliche Sanktionenrecht für erwachsene Straftäter in Deutschland ist damit gekennzeich­net von der eindeutigen Dominanz der Geldstrafe und von der informellen Verfahrenserledigung (Diversion, ggf. ebenfalls in Verbindung mit finanziellen Einbußen durch Geldauflagen).

Die als „informelle Sanktionen“ bezeichneten Rechtsfolgen der § 153 ff. StPO beinhalten auch das weite Feld der Mediation, die im deutschen Sprachgebrauch als Täter-Opfer-Ausgleich firmiert (vgl. § 153a I Nr. 1 und 5 StPO). Die Wiedergutmachung und der Täter-Opfer-Ausgleich können nach einer Reform aus dem Jahr 1994 auch auf gerichtlicher Ebene im Be­reich der Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu einem Schuldspruch unter Absehen von Strafe, ansonsten zu einer Strafmilderung führen (vgl. § 46a StGB). 1999 wurde der Täter-Opfer-Ausgleich durch die gesetzliche Ver­ankerung der Pflicht für Staatsanwaltschaft und Gericht, in jedem Stadium des Verfahrens auf einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer hinzuwirken, weiter gestärkt (vgl. §§ 155a, 155b StPO).

Damit gehört nach der Gesetzeslage und vor allem angesichts der Sankti­onspraxis der Gerichte Deutschland zu den „sanktionsärmeren“ Staaten: Die vom Strafgesetzbuch neben Geldstrafe und Freiheitsstrafe vor­gesehene Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 ff. StGB) im Bereich der Bagatell­kriminalität oder die auf die Organisierte Kriminalität zugeschnittene Ver­mögensstrafe (§ 43a StGB) *3 spielen kaum eine Rolle. Die seit der Einfüh­rung 1992 nur 13 mal angewendete Vermögensstrafe wurde zudem durch das Bundes­verfassungsgericht im März 2002 wegen ihrer mangelnden Bestimmtheit als verfassungswidrig bewertet und ist daher heute nicht mehr anwendbar. *4 Auch der Täter-Opfer-Ausgleich, der ein Absehen von Strafe ermöglicht (§ 46a StGB) oder im Rahmen der Diversion zu einem Strafverfolgungsverzicht führen kann (§ 153a I Nr. 1 und 5 StPO), hat im allgemeinen Strafrecht noch keine große quantitative Bedeutung erlangt.

Insgesamt betrachtet, hat sich nach überwiegender Ansicht das deutsche Sanktionensystem in der Praxis jedoch bewährt. So wird insbesondere von einer „Bewährung der Strafaussetzung zur Bewährung“ *5 gesprochen. Diese Einschätzung wird dokumentiert durch die statistisch ausgewiesene relativ geringe Widerrufsquote von knapp einem Drittel in den prognostisch prob­lematischeren Fällen der Strafaussetzung mit Unterstellung und durch die rückläufige Widerrufsquote trotz eines zunehmend problematischeren Klientels der Bewährungshilfe (vermehrt Vorbestrafte und wiederholt Un­terstellte). *6 Die Geldstrafe wird in ihrer Form des Tagessatzsystems nicht in Frage gestellt und ebenfalls als Erfolg eingeschätzt. *7

Trotz dieses Befunds folgt die aktuelle kriminalpolitische Diskussion dem internationalen Trend zur Diversifikation des Sanktionensystems. Hinter­grund sind vor allem die steigenden Gefangenenzahlen in den 90er Jahren, die Gefangenenrate *8 stieg von 81 im Jahr 1995 auf 98 im Jahr 2000 *9 und liegt damit über der italienischen, die 1999 90 betrug. Sie erklärt sich über­wiegend durch eine zunehmende Anzahl von Insassen, die eine lange Strafe zu verbüßen haben und durch Zuwächse bei Verurteilungen wegen Gewalt­delikten. Hierbei handelt es sich – wie die deliktsspezifische Analyse der Strafverfolgungsstatistiken zeigt – weniger um eine verschärfte Strafzu­messungspraxis im Sinne der Verhängung längerer Strafen, sondern um einen Anstieg der Verurteiltenzahlen wegen entsprechender Delikte. Der Belegungsanstieg im Strafvollzug ist auch durch die Fehlbelegungen mit denjenigen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen uneinbringlicher Geld­strafe verbüßen müssen, mitbedingt. Die nachfolgende Tabelle zeigt eindrucks­voll, dass die Geldstrafe vor allem bei sozial desintegrierten Tätern (z.B. Arbeitsentwöhnte, Alkoholiker, von Obdachlosigkeit Bedroh­te) aus dem Bereich leichter bis mittelschwerer Kriminalität an ihre Grenzen stößt, und dies insbesondere im Lauf der 90er Jahre.

Tabelle 1: Jährliche Zugänge im Strafvollzug bezüglich Ersatzfrei­heitsstrafen (alte Bundesländer)

Jährliche Zugänge im Strafvollzug bzgl. Ersatzfreiheitsstrafen
(alte Bundesländer)

Jahr abs. Veränderung zum Index
Vorzeitraum in % 1975 = 100

1975 26.903 100,0

1980 25.905 –3,7 96,3

1985 30.765 +18,8 114,4

1990 29.503 –4,1 109,7

1995 42.127 +42,8 156,6

1999 50.586 +20,1 188,0

2000 46.250 –8,6 171,9

2001 44.225 –4,4 164,4

Quelle: Eigene Berechnungen anhand Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Fachserie 10, Reihe 4.2, Strafvollzug – Anstalten, Bestand und Bewegung der Gefangenen 1975-2001, jew. Tab. 1.3. bzw. 1.4.

Die Zugänge im Strafvollzug hatten sich 1990-99 fast verdoppelt, in den beiden folgenden Jahren hat sich die Situation leicht entspannt, nicht zuletzt dank vermehrter Anstrengungen der Haftvermeidung und spektakulärer Praxisprojekte wie dasjenige in Mecklenburg-Vorpommern, mit dem es gelang die fehlbelegten Haftplätze um die Hälfte zu senken (vgl. Abb. 1). *10

Kritisiert wird im Rahmen der Reformdiskussion des Sanktionenrechts au­ßerdem, dass die erwähnte vom Gesetz vorgesehene Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe nach § 47 StGB nicht vollständig gelungen ist: Im Jahr 2000 waren immer noch 37% aller verhängten Freiheitsstrafen kürzer als sechs Monate, davon wurde auch ein nicht unerheblicher Teil von 25% unbedingt vollstreckt. *11

Vorschläge gibt es vor allem im Hinblick auf wesentliche Erweiterungen der Anwendungsbereiche der gemeinnützigen Arbeit und des Fahrverbots, auf eine Erweiterung der Möglichkeiten der Straf(rest)aussetzung zur Be­währung sowie zur Einführung des elektronisch überwachten Hausarrests, wenngleich letzterer Vorschlag nicht im Sinne einer neuen Sanktionsform, sondern als Vollstreckungsmodalität des letzten Teils einer unbedingten Freiheitsstrafe diskutiert wird. Maßgeblich für die aktuelle kriminalpoliti­sche Diskussion *12 sind verschiedene Gesetzentwürfe *13 , darunter ein umfas­sender vom Bundesministerium der Justiz vorgelegter Entwurf eines Geset­zes zur Reform des Sanktionenrechts *14 , der jedoch im Sommer 2002 nur in einer reduzierten Form in das Gesetzgebungsverfahren gegeben wurde, aber mit Ablauf der Legislaturperiode der „Diskontinuität“ anheim fiel. *15 Nach dem Wahlsieg der sog. Rot-Grünen-Koalition am 22.9.2002 ist anzu­nehmen, dass ein entsprechender Gesetzentwurf in der Legislaturperiode 2002–2006 erneut eingebracht werden wird. Dem letzten Gesetzesentwurf voran ging die Arbeit einer 1997 noch von der früheren konservativ-liberalen Bundesregierung eingesetzten Kommission, die ihren Abschlussbericht im März 2000 vorlegte. *16 Im folgenden werden die einzelnen aktuellen Reformvorschläge vorgestellt, die voraussichtlich im Jahr 2003 Gegenstand erneuter Gesetzes­reforminitiativen sein werden.

2. Reformvorschlag: die Gemeinnützige Arbeit stärken

Die meisten Befürworter findet der Vorschlag, den Anwendungsbereich der gemeinnützigen Arbeit zu er­weitern. Bislang gibt es sie nur als Ersatzsanktion zur Vermeidung einer Ersatzfreiheitsstrafe bei unein­bringlicher Geldstrafe (Art. 293 EGStGB). Dabei ist jedoch die Einführung als selbständige Hauptstrafe vor allem aus verfassungsrechtlichen *17 Gründen umstritten. Wie die Europäische Menschenrechtskonvention auch, spricht das deutsche Grundgesetz nach Meinung gewichtiger Stimmen in der Literatur gegen eine Einführung der gemeinnützigen Arbeit als Hauptstrafe, da ihr die im Verweigerungsfall drohende Frei­heitsstrafe Zwangsarbeitscharakter i. S. des Art. 12 Abs. 2 GG geben würde.

Dies versucht aus verfassungsrechtlichen Erwägungen der Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justizzu vermeiden, der eine Ersetzungslösung vorsieht. Danach sollte das Gericht erst dann, wenn es nach den Kriterien des § 47 StGB eine unbedingte Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten für unausweichlich hält, auf Antrag des Betroffenen statt dessen die Ableistung gemeinnütziger Arbeit gestatten können. *18 Diese Regelung ist im letzten Entwurf der rot-grünen Regierungsparteien nicht mehr enthalten, wenngleich am Prinzip der gemeinnützigen Arbeit als Ersatzstrafe für die Geldstrafe festgehalten wird. *19

§ 43 des Gesetzentwurfs des Justizministeriums und des Entwurfs vom Juni 2002 sehen vor, dass die gemein­nützige Arbeit Regelersatzsanktion bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe wird. Bisher war die gemeinnützige Arbeit Ersatzsanktion für die im Falle der Uneinbringlichkeit anzuordnende Ersatz­frei­heitsstrafe (vgl. Art. 293 EGStGB und die dazu erlassenen Verordnungen der Bundesländer), jetzt soll sie direkt an die Stelle der uneinbringlichen Geldstrafe vor einer Ersatzfreiheitsstrafenanordnung gestellt werden, eine Änderung des Vollstreckungsablaufs, von der man sich eine Reduzierung der tatsächlich zu verbüßenden Ersatzfreiheits­strafen erhofft.

Dabei sollen nunmehr drei (anstatt der bisher regelmäßig üblichen 6) Stunden Arbeit einem Tagessatz entsprechen. *20 Nur wenn der Straffällige hierzu seine Zustimmung verweigert oder die Arbeit nicht ordnungs­gemäß leistet, sollen Ersatzfreiheitsstrafen zu verbüßen sein. Damit wird die bisherige – in der Praxis unterschiedlich gehandhabte *21 – Regelung des Vorrangs gemeinnütziger Arbeit zur Vermeidung von Ersatz­frei­heits­strafen noch weiter ausgebaut.

Weiterhin sollte die Leistung gemeinnütziger Arbeit nach dem Entwurf von 2000 auf Antrag auch dann mög­­lich sein, wenn eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr zur Bewährung ausgesetzt wird. Daneben sollten Auflagen und Weisungen unzulässig sein. Der Nutzen dieser Regelung für den Straffälligen hätte darin bestanden, dass er seine Bewährungszeit abkürzen und so das Risiko des Bewährungswiderrufs senken kann. So soll der Gleichbehandlungsgrundsatz umgesetzt werden, um nicht denjenigen, die zu unbedingter Frei­heitsstrafe verurteilt worden sind, eine schnellere Erledigung ihrer Strafe zu ermöglichen als denjenigen, die die Voraussetzungen für eine Aussetzung erfüllen, jedoch durch die Bewährungszeit und ggf. durch Auf­lagen oder Weisungen belastet sind.

Hier – wie auch bei der gemeinnützigen Arbeit als Ersatzstrafe bei unein­bringlicher Geldstrafe – hätte sich allerdings eine mögliche Höchststun­denzahl von über 1000 Stunden abzuleistender Arbeit ergeben können. Bei der Geldstrafe sind wegen der sehr zurückhaltenden Verhängung von Geldstrafen von mehr als 90 Tagessätzen in der Regel wesentlich niedrigere Stundenzahlen abzuleisten, so dass sich praktisch auch das Problem der hohen Stundenzahlen bei der gemeinnützigen Arbeit als Ersatzsanktion nur selten stellen würde. Die Option der gemeinnützigen Arbeit im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung kann jedoch eine solche Belastung für den Betroffenen darstellen, dass die praktische Umsetzung dieser Regelung sehr problematisch erscheint, selbst wenn das Bemühen, auch schwerere Straftaten in den Anwendungsbereich der ambulanten Sanktionen einzubeziehen, grundsätzlich zu begrüßen ist. Der Entwurf von 2002 hat aufgrund der vielfach geäußerten Vorbehalte die Ersetzungslösung bei Bewährungsstrafen bzw. nicht ausgesetzten kurzen Freiheitsstrafen nicht mit aufgenommen.

Auch im Entwurf von 2002 ist eine Umstellung des Umrechnungsmaßstabs von der Tagessatzzahl der Geld­strafe und den ersatzweise zu vollstreckenden Tagen Ersatzfreiheitsstrafe von 1:1 auf 2:1 geplant. Zwei Tages­sätze Geldstrafe entsprechen damit einem Tagessatz Ersatzfreiheitsstrafe. Damit halbieren sich die zu verbüßenden Ersatzfreiheitsstrafen. Teilweise (z.B. Baden-Württemberg) wird dieser Umrechnungsmodus bereits jetzt im Gnadenweg praktiziert. Dies ist dadurch gerechtfertigt, dass die mit einem Freiheitsentzug verbundenen Belastungen erheblich über die Einbuße des durch das Nettoprinzip ermittelten Tagesein­kom­mens hinausgehen.

Insbesondere der Deutsche Richterbund hat an dem Entwurf Kritik geübt *22 , die jedoch wenig fundiert erscheint und abzulehnen ist. Dies gilt vor allem hinsichtlich der geäußerten Bedenken an der praktischen Realisierbarkeit gemeinnütziger Arbeitsangebote. Das Praxisprojekt in Mecklenburg-Vorpommern hat gezeigt, dass selbst in einem strukturschwachen Flächenland ein differenziertes und flächendeckendes Angebot an Einsatzstellen geschaffen werden kann. *23

Der Entwurf des Bundesministeriums der Justiz von 2000, der im Gegensatz zu einem früheren Bundes­ratsentwurf die gemeinnützige Arbeit nicht als selbständige Sanktion, sondern im Rahmen einer Ersetzungs­lösung vorsehen, ist nicht nur unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu befürworten, sondern auch, weil er besser gewährleistet, dass gemeinnützige Arbeit wirklich Freiheitsentzug reduziert, anstatt lediglich andere ambulante Sanktionen zu ersetzen oder gar in Fällen eingesetzt zu werden, bei denen bislang das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde (Gefahr des net-widening). *24

3. Erweiterung des Fahrverbots zur selbständigen Strafe

Neben der gemeinnützigen Arbeit ist ferner die Erweiterung des Anwen­dungsbereichs des Fahrverbotes in der Diskussion. Hier ist grundsätzlich zu begrüßen, dass in der vom Bundesjustizministerium ebenso wie von den Regierungsparteien vorgeschlagenen Gestaltung das Fahrverbot nicht mehr nur neben einer Geld- oder Freiheitsstrafe (als Nebenstrafe, vgl. § 44 StGB) verhängt werden kann, sondern zur selbständigen Hauptstrafe ausgestaltet werden soll. Die Entwürfe beschränken die Anwendbarkeit des Fahrverbots wie bisher auf Zusammenhangstaten im Bereich des Straßenverkehrs. So wird vermieden, dass es zu Sanktio­nie­run­gen kommt, die mit der Ursprungstat nichts zu tun haben. Wegen der zeitlichen Ausdehnung von drei auf sechs Monate kann das Fahrverbot die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe entbehrlich machen. Ebenso ist es jedoch möglich, dass die längeren Fahrverbote wie bisher neben Geld- oder Freiheitsstrafen verhängt werden, es damit zu einem net-widening-Effekt im Sinne einer Intensivierung der Sanktionierung kommt.

4. Erweiterung der Möglichkeiten der Straf(rest)aussetzung zur Be­währung

Der dritte Diskussionsgegenstand ist die Ausweitung der Möglichkeiten der Straf(rest)aussetzung zur Bewährung. Dabei gibt es zum einen die Überlegung, die Obergrenze für Strafaussetzungen zur Bewährung auf drei Jahre anzuheben. Dieser lange von der SPD verfolgte Ansatz wird aber von der rot-grünen Bundes­regierung offensichtlich politisch für inopportun gehalten, er war in den Gesetzesvorhaben vom Jahr 2000 und 2002 nicht mehr enthalten. Offenbar spielt dabei die Befürchtung eine Rolle, dass die Richter in Fällen, in denen sie eine Aussetzung in jedem Fall verhindern wollen, zu längeren Freiheitsstrafen als 3 Jahre greifen, die Sanktionspraxis sich so ggf. weiter verschärft.

Diese Befürchtungen erscheinen allerdings kaum begründet. Ein Bedürfnis der Aussetzung auch längerer Freiheitsstrafen ist schon wegen der Reform­gesetze von 1998 *25 , mit denen die Strafrahmen z. T. beträchtlich angehoben wurden, gegeben. Die ablehnende Haltung der Bundesregierung ist auch angesichts der schon erwähnten allgemein positiven Entwicklung der Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe in Deutschland zu bedauern. Man wird abwarten müssen, ob die im September 2002 gewählte neue rot-grüne Regierung etwas mehr Mut in der Kriminalpolitik entwickeln wird.

Hingegen wurde im Entwurf vom 8.12.2000 zur Reform des Sanktionenrechts das Instrument der Halb­strafen­aussetzung gestärkt, indem alle Erstverbüßer zeitiger Freiheitsstrafen nach Verbüßung der Hälfte der Strafe entlassen werden können. Bislang können nur Erstverbüßer mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren bereits nach der Hälfte der Strafzeit entlassen werden. Mit einem solchen gesetzgeberischen Signal würde möglicherweise Tendenzen einer restriktiveren Praxis bei den Strafrestaussetzungen insgesamt entgegenge­wirkt werden. *26 Der Entwurf vom Juni 2002 hat diese Regelung aber nicht mit aufgeführt, ein Zeichen einer auch hier allzu vorsichtigen und ängstlichen Politik. Offenbar wollte die Regierung im Wahl­kampf der Opposition keine Chance geben, als allzu „lasch“ bei der Kriminalitätsbekämpfung gebrandmarkt zu werden. Auch hier besteht die Hoffnung, dass die neu gewählte Regierung mit etwas mehr Mut die früheren eigenen Vorschläge wieder aufgreift.

5. Einführung des elektronisch überwachten Hausarrests?

Ein viertes, besonders umstrittenes Reformthema ist die Einführung des elektronisch überwachten Hausarrests. Die deutsche Justizministerkonferenz hat sich 1999 für die Einführung von Modellversuchen des elektronisch überwachten Hausarrests als Form der Strafverbüßung ausgesprochen. Da hierfür das StVollzG geändert werden müßte, wurde ein Bundesratsentwurf ebenfalls 1999 in den Bundestag eingebracht, der aber nicht verabschiedet wurde. *27 Angesichts zahlreicher Vorbehalte in Wissenschaft und Praxis gab es bislang lediglich in einzelnen Bundesländern (Berlin, Hamburg) Absichtserklärungen für Modellprojekte einer elektronischen Überwachung als Vollzugsform für Gefangene, die weniger als sechs Monate Freiheitsstrafe bzw. Restfreiheitsstrafe zu verbüßen haben, die aber derzeit nicht weiter verfolgt werden.

Während es in Ländern wie Schweden oder der Schweiz, die noch in erheblichem Umfang kurze Freiheits­strafen vollstrecken, sinnvoll sein mag, elektronisch überwachten Hausarrest einzuführen, macht dies in Deutsch­land keinen Sinn. Hierzulande tendiert das in Frage kommende Klientel gegen „Null“, so dass eine Einführung des elektronisch überwachten Hausarrests in weitem Umfang zu einer Ausweitung bzw. Intensivierung der sozialen Kontrolle im Bereich der bisher „normal“ unterstellten Bewährungs­probanden oder der Geldstrafe zur Folge hätte (net-widening).

Die genannten Entwürfe und Projekte lassen eine Reihe von Problemen, die für die deutsche Gesetzgebung und Praxis zu konstatieren sind, ungelöst. Neben Einzelfragen ist dies insbesondere die Festlegung von Beschwerdeverfahren innerhalb der Vollstreckung ambulanter Sanktionen durch staatliche Stellen oder freie Träger. Obwohl der Europarat in seiner jüngsten Empfehlung zu gemeindebezogenen Sanktionen ausdrücklich auf Defizite des Beschwerdeverfahrens in vielen europäischen Staaten hinweist *28 , bleibt dieser Punkt in allen aktuellen deutschen Gesetzentwürfen ausgespart. Besonders für die Vollstreckung der gemeinnützigen Arbeit ist die fehlende Regelung eines Beschwerdeverfahrens als Mangel zu bewerten. Ebenso wenig gibt es Initiativen, die die organisatorischen und rechtlichen Probleme der Vollstreckungsinstitutionen – auch unter der Berücksichtigung der freien Träger – angehen, wie dies etwa durch ein einheitliches Bewährungs­hilfegesetz geschehen könnte.

6. Weitere Reformüberlegungen in den Reformentwürfen von 2000 bzw. 2002

Als weitere Reformvorschläge der Reformentwürfe von 2000 bzw. 2002 sind zwei nicht unwesentliche Teil­aspekte zu erwähnen. Zum einen geht es um die vorsichtige Erweiterung der in der Praxis bedeutungslosen Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB. Die Verwarnung stellt praktisch eine zur Bewährung ausgesetzte Geldstrafe dar. Sie soll zukünftig auch mit der gemeinnützigen Arbeit als Bewährungsauflage verknüpft werden können. Ferner wird ihr Ausnahmecharakter abgeschwächt. *29 Die Bewährungszeit wird auf maximal 2 Jahre begrenzt (bisher 3 Jahre). Ob sich die Verurteilung mit Strafvorbehalt tatsächlich zu einer bedeutsamen Alternative zur Freiheitsstrafe unterhalb der Strafaussetzung zur Bewährung entwickeln wird, bleibt eher fraglich, da entsprechende geeignete Fälle in der Regel durch die Diversion, insbesondere § 153a StPO „abgeschöpft“ werden dürften. Allerdings ist ein Bedarf an Sanktionen, die die Vorteile der Bewährungsaufsicht und -hilfe ohne eine damit verknüpfte Freiheitsstrafe (die im Falle des Scheiterns zu verbüßen ist) gewährleisten, nicht von der Hand zu weisen. Deshalb hatte das Gutachten von Schöch zum Juristentag 1992 eine Aufwertung der Verwarnung mit Strafvorbehalt angeregt. *30 Dünkel/Spieß hatten noch weitergehend die Umgestaltung der Verwarnung in eine eigenständige Bewährungsstrafe (ähnlich der englischen probation) gefordert. *31

Eine in ihrer symbolischen und tatsächlichen Auswirkung ganz erheblicher Reformvorschlag des Referenten­entwurfs sowie des Entwurfs von 2002 ist die in § 40a StGB vorgesehene Zweckbestimmung der Geldstrafe, wonach 10% der Geldstrafe einer gemeinnützigen Einrichtung, deren Zweck die Hilfe für Opfer von Straftaten ist, zugewiesen werden soll. Dies würde sich angesichts der quantitativen Bedeutung der Geldstrafe in Deutschland deutlich auswirken und der Opferhilfe einen enormen Bedeutungszuwachs bescheren. Da aller­dings die entsprechenden Beträge dem Staat entgingen, erscheint die Verwirklichung dieses Reform­vorhabens angesichts ohnehin drastischer Steuerausfälle eher unwahrscheinlich.

7. Exkurs: Reformüberlegungen zum Jugendstrafrecht

Das für 14–21jährige Jugendliche und Heranwachsende geltende deutsche Jugendstrafrecht steht mit seinem aus­­differenzierten Sanktionenkatalog ganz im Gegensatz zum „schlichten“ und sanktionsarmen Erwachsenen­straf­recht. Das seit 1953 unveränderte JGG wurde 1990 mit dem 1. JGG-Änderungsgesetz grundlegend refor­miert, wenngleich der Bundestag mit der Verabschiedung des Gesetzes einen Katalog weiterer Reform­fragen be­schloss, der eigentlich schon im Zeitraum bis 1992 hätte zu einem 2. JGG-Änderungsgesetz führen sollen. *32 In der Zwischenzeit ist der Reformeifer allerdings vorübergehend erlahmt, zumal der Anstieg der registrier­ten Jugendkriminalität anfangs der 90er Jahre die ursprünglich liberalen Reformüberlegungen in Frage stellte.

Die aus Fachkreisen vorgelegten aktuellen Reformüberlegungen in Deutschland wurden in zwei Kommis­sionen der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen erarbeitet und formuliert, zum einen bereits 1992, zum anderen in vorläufigen Überlegungen im Jahre 2001. *33 Im September 2002 wurde aus Anlass des Deutschen Juristentags ein entsprechender Abschlussbericht vorgelegt. *34 Der Deutsche Juristentag befasste sich mit der Frage „Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?“.

Die Reform des JGG von 1990 hatte folgende wesentliche Neuerungen ge­bracht:

– Ausweitung der Diversion, insbesondere im Falle eines Täter-Opfer-Ausgleichs (vgl. § 45 II JGG);

– Übernahme der „neuen ambulanten Maßnahmen“ (Betreuungsweisung, Sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich, Gemeinnützige Arbeit) ins Gesetz (§§ 10, 15 JGG);

– erweiterte Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung, insbeson­dere bei Jugendstrafen von mehr als einem bis zu zwei Jahren (vgl. §§ 21 II, 30 JGG);

– Abschaffung der zeitlich relativ unbestimmten Jugendstrafe;

– Ausbau der Jugendgerichtshilfe (u. a. als Haftentscheidungshilfe, vgl. §§ 38 II, 72a JGG) und der Ver­teidigung (vgl. § 68 Nr. 4 JGG) bei Jugendlichen;

– Einschränkung der Anordnung von Untersuchungshaft bei Jugendlichen, insbesondere bei 14- und 15jährigen (vgl. § 72 JGG).

Als Desiderate der Reform hatte der Bundestag in seinem Beschluss von 1990 u. a. die Klärung der Voraus­setzungen der Verhängung von Jugend­strafe, das Verhältnis von Erziehungsmaßregeln und sog. Zuchtmitteln (z.B. Jugendarrest, Auflagen im Sinne von Denkzettelstrafen), die Behand­lung 18–21jähriger Heranwachsen­der, Fragen der Strafzumessung (Auf­schaukelungstendenzen), die Stellung der Jugend­gerichts­hilfe und die Aus- und Fortbildung von Jugendrichtern und -staatsanwälten genannt.

Die erste DVJJ-Kommission entwickelte Vorschläge, die auf eine weitere Zurückdrängung von freiheits­ent­zie­hen­den Sanktionen ausgerichtet waren. Der Erziehungsgedanke sollte beibehalten werden, das Schuld­prinzip und der Verhältnismäßigkeitsgedanke aber stärker integriert werden. Demge­mäss sollten auch er­zieherische Sanktionen nach dem Verhältnismäßig­keitsgedanken begrenzt werden (z.B. Einführung einer Höch­ststundenzahl für die gemeinnützige Arbeit). Der Jugendarrest, d. h. Freiheitsentzug an zwei Wochenen­den oder von bis zu 4 Wochen, sollte abgeschafft werden, Jugendstrafe im Mindestmass von 6 auf 3 Monate verkürzt werden. Auch das Höchstmass der Jugendstrafe sollte bei Jugendlichen von 5 auf 2, bei Heranwach­sen­­den von 10 auf 5 Jahre herabgesetzt werden (Ausnahme bei Kapitaldelikten, wo es bei 10 Jahren Höchststrafe bleiben sollte). *35

Die im Jahr 1999 eingesetzte zweite DVJJ-Reformkommission legte erste Ergebnisse im Jahr 2001 und den Abschlußbericht im September 2002 vor, die in der Tradition der ersten Kommission stehend eine Absenkung des Strafenniveaus und Ausweitung ambulanter Maßnahmen unter Klarstellung und Abgrenzung der im engeren Sinne sozialpädagogischen Maßnahmen von den schlicht verpflichtenden Sanktionen wie gemein­nüt­zige Arbeit, Geldbuße, Entziehung der Fahrerlaubnis beinhalteten. *36 Zum Jugendarrest gibt es keine einheitliche Meinung; eine Gruppe will ihn gänzlich abschaffen, eine andere den Dauerarrest von einer Woche bis zu vier Wochen beibehalten. Letztere Gruppe setzte sich mit knapper Mehrheit durch. Allerdings soll nach den Vorstellungen der DVJJ die Verhängung von Jugendarrest von der vorherigen erfolglosen Ver­hängung ambulanter Maßnahmen abhängig gemacht werden. *37

Das Ziel des Jugendstrafrechts wird von der DVVJ-Kommission in der Legalbewährung (Spezialprävention) und Förderung des jungen Menschen im Hinblick auf die soziale Integration gesehen. Damit wird den Forderun­gen nach einer zeitgemäßen Interpretation bzw. Reformulierung des Erzie­hungsgedankens Rechnung getragen. *38

Es soll an dieser Stelle allerdings nicht unterschlagen werden, dass sich im Laufe der 90er Jahre auch gegenläufige kriminalpolitische Tendenzen aus den Reihen der konservativen Parteien CDU/CSU artikuliert haben. Gefor­dert wurde die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von 14 auf 12 Jahre und die nur noch ausnahms­weise Aburteilung von Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht (die gegenwärtige Praxis bezieht Heran­wachsende zu 60%, bei den schweren Delikten zu über 90% in das Jugendstrafrecht ein). *39 Die Stellungnahmen aus der Wissenschaft und Praxis hierzu sind eindeutig ablehnend. *40 Zwar ist nach dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition nicht mit entsprechenden Verschärfungen des Jugendstrafrechts zu rechnen, jedoch kann derartige symbolische und populistische Politik die von Fachkreisen vorgeschlagenen Reformen in die andere Richtung möglicherweise erschweren.

Eine für die weitere Entwicklung wichtige Studie ist zweifellos das aktuelle Gutachten von H.-J. Albrecht zum 64. Deutschen Juristentag im September 2002. *41

Die Bestandsaufnahme von Albrecht kommt zu dem Ergebnis, dass das Er­ziehungsziel und die Erziehungs­konzeption des Jugendstrafrechts die damit verfolgten Ansprüche nicht einlösen konnten. „Vielmehr sind die Folgen eher zu Lasten junger Straffälliger ausgefallen.“ In der Konsequenz fordert Albrecht, „das Erziehungsziel als Begründung des Jugendstrafrechts und als Leitlinie der Bemessung von jugendstraf­rechtlichen Sanktionen“ aufzugeben. *42 Wie von den DVJJ-Kommissionen auch, wird die Benachteiligung Jugendlicher durch den Erziehungsgedanken wie z.B. durch die fakultativ aus erzieherischen Gründen mögliche Nichtanrechnung der Untersuchungshaft (§ 52a JGG) oder die Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 51 JGG) abgelehnt.*43 Allerdings halten die DVJJ-Kommissionen (und mit ihnen die ganz herrschende Meinung in Wissenschaft und Praxis) im Gegensatz zu Albrecht an einem auf Spezial­prävention reduzierten Erziehungsgedanken als Eckpfeiler des Jugendstrafrechts fest. *44 Albrecht möchte seinerseits trotz der weitgehenden Angleichung an das Erwachsenenstrafrecht dennoch an einem gesonderten Jugendstrafrecht festhalten. Dieses soll sich durch „Überlegungen der besonderen sozial und normativ begründeten und abgesicherten Jugendphase, die auch besondere Verletzlichkeiten für die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bindungen mit sich bringt“ und dazu führt, dass „ein voller Schuldvorwurf nicht erhoben werden kann“, legitimieren. Mit anderen Worten soll also die Vulnerabilität der Jugend als Straf­milderungsgrund herangezogen werden. Ausschlaggebend für die Rechtsfolgenauswahl und -bemessung sollen Tatschwere bzw. das verschuldete Unrecht sein. Ferner stützt Albrecht sich auf die international verstärkte Opferorientierung, wie die Bemühungen um Tatausgleich (Österreich), Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung zeigten.

Diese Argumentation ist nicht schlüssig und bedarf entschiedener Ableh­nung. Sie wird im übrigen auch nicht durch den internationalen Vergleich nahegelegt, denn die zitierte Entwicklung vor allem in England/Wales oder den USA stellt eher eine Sonderentwicklung dar, während in den meisten europäischen Ländern die deutsche Konzeption eines eindeutig spezialpräventiv („erzieherisch“) geprägten Jugendstrafrechts als vorbildlich gilt und beispielsweise in den osteuropäischen Ländern, aber auch bei aktuellen Reformen in Westeuropa wie beispielsweise in Spanien im Jahr 2000 oder in Portugal 2001 von erheblichem Einfluss war und ist. *45 Nicht zuletzt sprechen die internationalen Regeln der Vereinten Nationen und des Europarats *46 eine deutliche Sprache, so dass die Begründungspflicht für einen Sonderweg jenseits spezialpräventiver Grundlegungen besonders schwer wiegt.

Man kann im übrigen nicht einerseits den Erziehungsgedanken, ja selbst schlicht spezialpräventive Ziel­setzungen, ablehnen und andererseits an dem herkömmlichen Sanktionensystem mit eindeutig sozial­pädagogischen Zielsetzungen wie dem sozialen Trainingskurs (der als Lern- und Trai­ningsprogramm be­zeichnet wird) festhalten. Tatproportionalität und Tat­schwere als vorrangige Kriterien der Strafzumessung vermögen schwerlich die Auswahl zwischen einer Geldbusse und der Teilnahme an einem Lernprogramm zu legitimieren. Die Nichtberücksichtigung der individuellen Vorbelastungen und ggf. Erziehungsdefizite bei einseitiger Betonung der Tatschwere führt ihrerseits zu Ungerechtigkeiten und Un­gleichbehandlung, ein Argument, das Albrecht aber dem Erziehungsgedan­ken vorhält. Die auch von ihm vorgeschlagenen nichts anderes als pädagogischen Sanktionen lassen sich schwerlich erziehungsfrei interpretieren, will man nicht „vollends im Nebel sinnentleerter Worthülsen“ versinken. *47

So scharfsinnig und weitgehend zutreffend die Kritik an einem pädagogisch „aufgeladenen“ Erziehungsbegriff ist, der gleichsam als „trojanisches Pferd“ *48 unter Umständen punitive oder repressive Bestrafungsideologien „mittransportieren“ kann *49 (die Zeit des Nationalsozialismus gibt hierfür ein gutes Beispiel), so wenig überzeugend ist die Hoffnung, dass der Tatproportionalitätsgedanke weniger ideologie- oder miss­brauchs­anfällig wäre. Hierfür liefert die jüngere Geschichte des US-amerikanischen Jugendstrafrechts bzw. Strafrechts allgemein ein abschreckendes Beispiel. Weigend hat eindrucksvoll aufgezeigt, dass mit der neo-klassischen Wende eines an der Tatschuld orientierten Jugendstrafrechts das durchschnittliche Strafmass teilweise beträchtlich anstieg (insbesondere in Kalifornien) und andererseits die regionalen Straf­zumessungs­unterschiede nicht beseitigt wurden. *50 Zu Recht schlussfolgert Weigend daher, dass die politische Anfälligkeit „theoretisch in gleichem Maße bei einem Erziehungs- wie bei einem Vergeltungsstrafrecht besteht“. Beide Konzepte können zu einer „unbegründeten Verschärfung des Sanktionsklimas missbraucht werden“. Tatproportionalität als Begründungs- und nicht nur als Begrenzungsfunktion (im Sinne der Limitierung ausufernder Erziehungsansprüche) erscheint eher noch „störanfälliger“ als der Erziehungsgedanke, der eben auch „positive Emotionen (Schutz-, Hilfsbereitschaft, Verständnis, Nachsicht)“ auslöst. *51

Dies wird auch an der von Albrecht bemühten Opferorientierung deutlich. Sie beinhaltet nämlich – wie er­neut die US-amerikanischen Erfahrungen belegen – nicht nur die täterfreundliche Variante eines Täter-Opfer-Ausgleichs (verbunden mit einer regelmäßigen Diversion), sondern durchaus auch die Aufnahme repressiver Bestrafungswünsche von Opfern (vgl. die sog victims impact statements z.B. bei der Frage einer bedingten Entlassung, die in einigen US-Bundesstaaten zu erheblich längeren Verbüßungszeiten geführt haben).

Sicherlich ist Albrecht darin recht zu geben, dass der Erziehungsgedanke in gewisser Weise sinnentleert als kriminalpolitischer Begriff oder „Chiffre“ benutzt wurde und wird, um Milderungen der strafrechtlichen Sozialkontrolle gegenüber Jugendlichen durchzusetzen. *52 In seinem Beitrag aus dem Jahr 1992 bekannte Albrecht aber zugleich, dass mit der Rückbesinnung auf das allgemeine Strafrecht und den Pro­portionalitätsgedanken „nur eine Krücke gegen eine andere Krücke ausgetauscht“ werde. *53

Die Rückkehr zu neo-klassischen Bestrafungskonzepten ist also in vielerlei Hinsicht gefährlich und verspricht keinen Fortschritt. Ein Rückschritt wäre darüber hinausgehend, dass mit der Aufgabe des Erziehungsanspruchs bzw. der spezialpräventiven Folgenorientierung auch der Anspruch auf eine empirische Überprüfbarkeit der Wirkungen des Jugendstrafrechts aufgegeben wird. *54 Tatproportionalität gibt kein empirisch „begründbares Beziehungsverhältnis etwa zwischen einem Einbruchsdiebstahl und 60 Tagessätzen Geldstrafe, 6 Monaten Freiheitsstrafe oder drei Jahren Freiheitsstrafe“. Die „Irrationalität der Strafmaßbestimmung“ *55 wird so zum einer rationalen Überprüfung entzogenen Programm erhoben.

Zuzustimmen ist Albrecht allerdings in den Teilen des Gutachtens, die sich stark an die Vorschläge der DVJJ-Kommission anlehnen, etwa wenn die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen und der Jugendarrest. *56 Auch die eindeutige Ablehnung des sog. Einstiegsarrests, d. h. die Verbindung einer Bewährungsstrafe mit einem Jugendarrest als kurzer Schockstrafe, um den Jugendlichen zu beeindrucken, *57 ver­dient Zustimmung. Die shock incarceration oder shock probation hat sich nach dem internationalen Erfahrungs­stand der empirischen Sanktionsforschung gegenüber der normalen Bewährungsstrafe nicht als über­legen erwiesen. *58 Auch das eindeutige Votum für eine regelmäßige Einbeziehung der Heranwachsenden jenseits der schwammigen Kriterien des § 105 JGG verdient Zustimmung und entspricht im übrigen einer alten (und aktuellen) Forderung der DVJJ, die jetzt sogar über ein Jungtäterstrafrecht bis zum Alter von 24 Jahren fordert. *59 Dass die Praxis in diesem Fall bei den Massendelikten der Bagatelleigentums- und Verkehrs­delinquenz das Strafbefehlsverfahren gerne auch bei Heranwachsenden nützen würde, belegt die Analyse der Sanktionspraxis zumindest in einigen Bundesländern. *60 Von daher erscheint der Vorschlag, das Straf­befehlsverfahren bei Bagatelldelikten Heranwachsender zuzulassen, bedenkenswert.

Insgesamt birgt Albrechts Gutachten die Gefahr, ein gesondertes Jugendstrafrecht für obsolet zu halten und zuguns­ten eines bzgl. Jugendlichen gemilderten Erwachsenenstrafrechts aufzugeben. Denn das Bekenntnis für ein gesondertes Jugendstrafrecht, dessen Rechtsfolgensystem und Verfahrensnormen weitgehend dem Er­wachsenen­strafecht angeglichen werden, erscheint als bloßes Lippenbekenntnis. Wenn Albrecht vorschlägt, die Rechtsfolgenbestimmung des § 46 StGB auf das Jugendstrafrecht zu übertragen, *61 könnte man die Besonder­heit des Jugendstrafrechts auf einen Absatz reduzieren, nämlich dass infolge des Status „Jugend­licher“ die Strafe nach bestimmten Grundsätzen zu mildern ist. Strafmilderung alleine – und dies belegt beispielsweise die Situation in den skandinavischen Ländern – vermag aber kein besonderes Jugendstrafrecht zu legitimieren. Im übrigen käme über die Hintertür des § 46 StGB nicht nur die Tat­schuldvergeltung bzw. Tatproportionalität als tragendes Prinzip zur Geltung, sondern auch Spezial- und Generalprävention in ihren verschiedenen Varianten. Dass generalpräventive Argumente, die nach der Rspr. zum geltenden Jugend­straf­recht bewusst und mit gutem Grund ausgeschlossen werden, zu weiteren Strafschärfungen führen werden, erscheint gerade mit Rücksicht auf aufsehenerregende Gewaltdelikte u. a. im rechtsextremen Bereich unzweifelhaft. Die von Albrecht gewollte mildere Sanktionierung junger Rechtsbrecher im Vergleich zu Erwachsenen lässt sich daher nur bei einer auf Spezialprävention *62 beschränkten Zielsetzung des Jugend­straf­rechts bei gleichzeitiger Limitierung durch die durchschnittlich als gemindert anzusehende Schuld und den Verhältnismäßigkeitsgedanken erreichen. Trotz aller Probleme der empirischen Bestätigung, welche Sanktion oder Strafe in welchen Fällen wie wirkt *63 , ist demnach auch für das Jugendstrafrecht an der präven­tiven Begründung der Rechtsfolgen *64 (Erziehung bzw. Spezial­prävention) unter Einbeziehung des Schuld­prinzips als Mittel der Eingriffsbegrenzung (nicht der Begründung!) festzuhalten. *65

Der 64. Deutsche Juristentag ist in seinen Beschlüssen vom 19.9.2002 weitgehend der von der DVJJ vertretenen und von der Wissenschaft und Praxis weitgehend geteilten Auffassung *66 gefolgt. *67 So wurde nahezu einhellig für die Beibehaltung des Erziehungsgedankens in der Reformulierung auf die Spezial­prävention votiert. Einstimmig wurde die Herabsetzung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre abgelehnt, mehrheitlich wurde die vollständige Einbeziehung der Heranwachsenden befürwortet, allerdings um den Preis einer Anhebung der Jugendstrafe von maximal 10 auf 15 Jahre bei Kapitaldelikten, die bei Erwachsenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind. Eine Ausdehnung der Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts auf 21–24jährige Jungerwachsene wurde zwar abgelehnt, dafür aber die Möglichkeit einer Milderung der Strafen des allgemeinen Strafrechts (gem. § 49 StGB) akzeptiert. Als weitere ambulante Sanktionen des Jugend­strafrechts werden die Meldepflicht und der Schuldspruch ohne weitere Sanktionierung vorgeschlagen. Ferner wurde für Begrenzungen der gemeinnützigen Arbeit (maximal 120 Stunden) und der Geldauflage (maximal das doppelte Monatsnettoeinkommen) votiert. Die Abschaffung des Jugendarrests wurde ebenso abgelehnt wie die zusätzliche Verbindung des Jugendarrests mit einer ausgesetzten Jugendstrafe (Ein­stiegs­arrest). Die Jugendstrafe soll restriktiver ausgestaltet werden, die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen gänzlich entfallen, bei 14- und 15jährigen soll Jugendstrafe nur bei Vorliegen eines schwersten Gewalt­ver­brechens möglich sein. Die drohende bedingte oder unbedingte Jugendstrafe oder ein Bewährungswiderruf sollen Fälle der notwendigen Verteidigung (Beiordnung eines Pflichtverteidigers) sein, ebenso die anwaltliche Vertretung des Verletzten (im Falle der vorgeschlagenen Nebenklage).

Insgesamt verdeutlichen die Beschlüsse des Deutschen Juristentags, dass sich Verschärfungs- ebenso wenig wie neo-klassische Tendenzen nicht durchsetzen konnten. In Anbetracht der im September 2002 wieder gewählten rot-grünen Bundesregierung dürften die Chancen nicht schlecht stehen, wesentliche Teile der insbesondere auch von der DVJJ vertretenen Reformvorschläge tatsächlich in einem 2. JGG-Änderungsgesetz umzusetzen.

8. Ausblick

Die deutsche Kriminalpolitik zeigt deutliche Anzeichen einer Doppelstra­tegie im Vorgehen gegen Kriminalität: Einerseits soll der Bevölkerung ein konsequentes Vorgehen bei Thema „innere Sicherheit“ gezeigt werden, was sich zum Beispiel in härteren Strafen gegenüber Sexual- und Gewaltsstraftätern niederschlägt, auch gibt es Hinweise, dass sich die Praxis bei der Strafrestaussetzung (zumindest bei diesen Tätergruppen) verschärft hat. *68 Diese Tendenz ist im Bereich des Jugendstrafrechts weniger stark ausgeprägt. Andererseits will man die Justiz und die Gefängnisse im Bereich der leichten und mittleren Kriminalität entlasten. Dabei ist das Instrument der Diversion wie auch das der Geldstrafe an seine Grenzen gelangt, auch hier will man im übrigen „fühlbare“ Strafen präsentieren können. Auf die gemeinnützige Arbeit wird in dieser Hinsicht die größte Hoffnung gestützt, sie gilt außerdem auch als eine bei der Bevölkerung akzeptierte Sanktionsform. Schließlich hält man auch einen moderaten Ausbau schlichtender bzw. ausgleichender Instrumente für geeignet, leichteren Straftaten effektiv begegnen und gleichzeitig die Strafjustiz entlasten zu können. Dennoch sind die bisher vorgelegten Entwürfe zur Reform des Sanktionenrechts eher halbherzig und allenfalls als kleiner Schritt in die richtige Richtung zu bewerten. *69

Im Bereich des Jugendstrafrechts lassen sich gleichfalls Bemühungen zur weiteren Reduzierung freiheitsentziehender Sanktionen und Entkriminalisierungstendenzen (Diversion und materiellrechtliche Entkriminalisierung) erkennen. Nach wie vor wird eindeutig die spezialpräventive (erzieherische) Ausrichtung favorisiert und stoßen generalpräventive oder schlicht tatvergeltende („tatproportionale“) Orientierungen – wie der Deutsche Juristentag im September 2002 eindrucksvoll gezeigt hat – einhellig auf Ablehnung.

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