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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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European Legal Harmony: Goals and Milestones

X/2005
ISBN 9985-870-20-4

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Der französische Code civil im Jahr 2005 – Monument oder Gespenst?

Im Jahre 2004 wurde das zweihundertjährige Jubiläum des Code civil mit vielen Festlichkeiten begangen, in Frankreich selbst wie auch im Ausland. Weltweit wurden 50 Kolloquien und Kongresse organisiert, sechs neue Bücher und unzählbare Artikel erschienen, eine prächtige Zeremonie im Beisein von ranghohen Vertretern aus Politik und Gesellschaft fand im März 2004 statt *2 , mehrere Ausstellungen waren und sind noch zu sehen, mit einer neuen Briefmarke zum Thema können die Franzosen ihre Post verzieren.

Nicht um mich für einen abgedroschenen Artikel zu rechtfertigen weise ich auf alle diese Beiträge hin, sondern um zu betonen, wie bedeutend der Code civil heutzutage ist, vielleicht nicht für alle Franzosen (die oft Code civil und Code pénal verwechseln!), sicherlich aber für alle französische Juristen. Jean Carbonnier, vielleicht der berühmteste französische Jurist im 20. Jahrhundert, nannte ihn die „constitution civile de la France” (d. h. das bürgerliche Grundgesetz). Das Zitat wurde von Präsident Jacques Chirac wiederholt, als er die offizielle Jubiläumsfeier eröffnete. Nachdem er an den bekannten Satz Napoleons erinnert hatte: „Mein wahrer Ruhm gründet nicht auf dem Sieg in vierzig Schlachten. Was nicht auszustechen sein, was ewig leben wird, ist mein Gesetzbuch”, erklärte der Präsident: „Zweihundert Jahre später ist das Gesetzbuch von Napoleon und Portalis noch immer da, Grundstein unseres Rechtssystems, bürgerliches Grundgesetz Frankreichs, außergewöhnlicher Botschafter des französischen Rechts”.

In vielen schriftlichen oder mündlichen Beiträgen wurde bemerkt, dass die Zweihundertjahrfeier viel prächtiger war als die Zeremonie im Jahre 1904. *3 Die herrschende Meinung ist, dass der Code civil schon damals veraltet war, weil die sozialen Verhältnisse sich im Laufe des 19. Jahrhunderts drastisch geändert haben und der Code von 1804 schien nicht mehr wirklich auf die neuen Bedürfnisse zu antworten. Auch war das deutsche BGB erst kurz zuvor in Kraft gesetzt worden und schien den alten Code civil zu bedrohen. So sagten viele Juristen in dieser Zeit das nahe Ende des Code civil voraus und seine komplette Neufassung wurde vielfach diskutiert.

Auf den ersten Blick ist der Tonfall des heutigen Diskurses so negativ nicht. Der Code wird gewöhnlich – und mit vollem Recht – als ein Monument der Rechtswissenschaft und als ein wertvoller Schatz der französischen Kultur betrachtet. Man lobt seine Ästhetik, seine Ausgewogenheit zwischen dem Pragmatismus des Common law und der abstrakten Dogmatik des BGB. Sicherlich wird heute die dreiteilige, von Gaius ererbte Struktur kritisiert *4 , sie scheint aber für die Anwendung des Code civil nicht störend und hat seine außergewöhnliche Langlebigkeit nicht gefährdet. So denkt heute niemand an einen kompletten Umbau des Code civil. Lediglich Teilrevisionen sind vorhergesehen.

Hinter der prächtigen Jubiläumsfeier, hinter den bewundernden Worten kann man jedoch in vielen Vorträgen und schriftlichen Äußerungen eine tiefe Unruhe entdecken – eine Unruhe bezüglich der Zukunft des Werkes. Wie der belgische Professor Marcel Fontaine es so treffend formuliert, klingt darin eine Art „postmoderner Blues”. *5  

Haben unser schöner Code und unsere reiche, auf ihm gründende juristische Tradition, noch ihren Platz im 21. Jahrhundert? Ist der Code civil in Frankreich selbst nicht schon unheilbar veraltet und wird von der Entwicklung des bürgerlichen Rechts in den Gesetzen und in der Rechtsprechung völlig überholt? Und wenn man den Code unter internationalen Verhältnissen betrachtet, welche Rolle kann er dann noch spielen? Wird die Zukunft des Code civil nicht von innen und von außen bedroht?

Diese zwei Fragen will ich im Folgenden diskutierten. Dabei ist es nicht ikonoklastisch, sie zu stellen, wenn die Zeiten nach den Feierlichkeiten nicht zu schwierig werden sollen.

1. Der französische Code civil: von innen überholt?

Natürlich – und glücklicherweise – ist das heutige bürgerliche Recht in Frankreich ganz anders, als es 1804 im Code Napoleon war. Man kann sogar sagen, dass das bürgerliche Recht ganz verschieden ist, von dem, was man im heutigen Code civil lesen kann. Unzählige neue Gesetze, besonders seit 1960, und eine reiche Rechtsprechung haben bei vielen Sachlagen die Rechtsnormen geändert. Das ist die normale Entwicklung eines Rechtssystems, und natürlich keine Eigenart des französischen Rechtes allein, das sich entsprechend den sozialen Verhältnissen verändern muss. Man muss diese Entwicklungen aber in Betracht ziehen, wenn man über das zweihundertjährige Bestehen des Code civil spricht. Hier kann man, meiner Ansicht nach, zwei Arten von Veränderungen unterscheiden. Ein Teil der Entwicklung ist im Code civil, oder durch den Code civil geschehen – und diese Änderungen zeugen mehr von der Lebenskraft unseres Gesetzbuches als von seinem Lebensalter (A). Anders verhält es sich mit Änderungen, die im Gesetz oder in der Rechtsprechung, außerhalb oder manchmal im Widerspruch zum Code geschaffen wurden (B).

1.1. Änderungen im oder durch den Code civil

Zunächst muss man feststellen, dass viele Teile des Code Napoleons im Laufe der Zeit ganz neu formuliert wurden und heute fast nichts mehr mit dem Originaltext zu tun haben. Das wird besonders im Personen- und Familienrecht deutlich. Einige dieser Änderungen gehen bis ins 19. Jh. zurück, die meisten aber stammen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Gesetze über Minderjährigkeit (1964) Ehegüterrecht (1965), Abstammung (1972), Ehescheidung (1975, mit einer erneuten Reform 2003), elterliche Gewalt (viele Gesetze seit 1970), Erbrecht (1966, 2000). Prof. Catala hat alle Änderungen gezählt: Von den 343 Artikeln des „Titre I” sind nur noch 39 in der ursprünglichen Form erhalten, also ungefähr elf Prozent. *6 Nur die Artikel über die Ehe sind in diesem Teil weitgehend unberührt geblieben. Alle diese Reformen haben sich aber problemlos in den Code einfügen lassen: Die grundsätzliche Struktur bleibt unberührt, der Gesetzgeber hat die alte Nummerierung behalten, anders als in allen anderen französischen Gesetzbüchern. Und man muss natürlich sagen, dass die Hauptteile des Code über Sachen- und Schuldrecht im Laufe der Zeit fast völlig unberührt blieben: Im Sachenrecht (Titre II) bleiben 155 der 194 Originalartikel, im allgemeinen Schuldrecht 238 von 269! So stellt sich das Bild eines Greises mit vielen Prothesen ein: Zahnersatz, ein neues Herz und neue Nieren ... und doch ist es noch immer dieselbe Person, weil das Gehirn das gleiche geblieben ist. Wenn man an die Existenz der Seele glaubt, wird man sagen: Die Seele bleibt immer erhalten! Und so bleibt der Code civil immer der Code civil.

Die Seele bleibt unverändert, wenn die Rechtsprechung auch im Laufe der Zeit neue Auslegungen einzelner Artikel erlaubt hat. Kein französischer Jurist glaubt noch, dass die Bedeutung eines Textes für ewig wie in der Zeit Napoleons festgeschrieben sein muss: Die Auslegung kann und muss sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ändern. Zum Beispiel hat heute der Begriff „erreur sur la substance” (gründlicher Irrtum) im Artikel 1110 überhaupt nicht mehr dieselbe Bedeutung wie im Jahre 1804. Auch Artikel 1121 über „stipulation pour autrui” (Vertrag mit Wirkung für Dritte) gestattet eine neue Interpretation. Und es ist für mich ein Wunder zu beobachten, wie die Cour de cassation dem Artikel 1134 Absatz 3 über die „bonne foi” oder dem Artikel 1131 über die „cause” eine zweite Jugend verliehen hat, indem sie aus diesen allgemeinen Begriffen Instrumente für das vertragliche Gleichgewicht entwickelte. In diesen Fällen bleibt der Text ein Fundament. Der Sinn hat sich geändert, man hat einen Begriff mit neuer Bedeutung gefüllt, kann aber nach wie vor diesen neuen Sinn mit dem ursprünglichen Text verknüpfen. Die Änderungen geschehen hier durch den Code civil, und sie weisen darauf hin, wie anpassungsfähig dieser Code bezüglich der generellen Klauseln ist.

Anders ist es, wenn die neuen Normen, die von der Rechtsprechung begründet werden, von der gesetzlichen Basis ganz getrennt sind. In diesen Fällen findet die Entwicklung wirklich außerhalb, manchmal im Widerspruch zum Code civil statt.

1.2. Änderungen außerhalb oder im Widerspruch
zum Code civil

Erstens muss man beobachten, dass viele Gesetze, die im bürgerlichen Recht Platz finden, nicht in den Code civil integriert sind, aber als isolierte Gesetze verbleiben, oder selbst in anderen Gesetzbüchern gesammelt wer­den. Ich spreche natürlich nicht von autonomen Rechtszweigen, die sich seit langem vom bürgerlichen Recht abgetrennt haben (Handelsrecht, Arbeitsrecht, öffentliches Recht). Vielmehr denke ich an die zahl­reichen besonderen Gesetze, die heute wichtige Aspekte des Lebens der Bürger regeln und dabei dennoch außerhalb des Code geblieben sind. So haben wir im Code fünf Artikel über die deliktische Haftung, aber die in der Praxis wichtigsten Fälle des Schadensersatzrechts, die Verkehrsunfälle, sind in einem Gesetz von 1985 und nicht im Code geregelt. Wir haben die Artikel 1713 bis 1778 über Mietverträge, und besonders die Artikel 1752 bis 1762 „Des rčgles particuličres aux baux ą loyer” (Besondere Regeln über den Mietvertrag eines Hauses), diese Texte haben aber heute fast keinen Sinn mehr, weil diese Verhältnisse in den meisten Fällen durch ein Gesetz von 1989 geregelt sind. Und was bedeutet heute der Titel „Von der Bürgschaft”, seit der Gesetzgeber 2003 eine besondere Regelung für alle von natürlichen Personen gegebenen Bürgschaften verkündet hat, die nicht in den Code civil, dafür aber in das Verbrauchergesetzbuch (Code de la consommation) eingefügt wurde?

Man kann mir entgegenhalten, dass diese Gesetze besondere Gesetze sind, die keinen Platz im Code civil finden, wo nur das „allgemeine Recht” (droit commun) geschrieben steht. Zum Beispiel hätte der Code civil nur mit dem Vertragspartner im Allgemeinen, nicht mit dem Verbraucher, mit der Sache im Allgemeinen, nicht mit dem Auto, etwas zu tun. So denken viele französische Juristen, besonders wenn die Gesetze eine europäische Herkunft haben. Ich halte dem entgegen, dass auch im Code Napoleon selbst viele besondere Regelungen stattgefunden haben: Das Mietvertragsrecht unterscheidet zwischen Wohnhäusern und Landgütern, die Texte über Delikthaftung kennen nicht nur „die Gegenstände” sondern auch die Tiere (Art 1385) und die verfallenen Gebäude (art 1386), die in der Entstehungszeit des Code civil die gefährlichsten Sachen waren. Diesem Beispiel folgend, sollte man in das „bürgerliche Gesetzbuch” die Regelungen integrieren, die in den meisten Fällen Anwendung finden und für die „Bürger” im alltäglichen Leben am wichtigsten sind. Sonst kann ein Problem für die Sicherheit entstehen. Auch bezüglich der Rechtskenntnis der Bürger kann es problematisch werden – besonders deutlich gilt dies für Bürger anderer Nationen – wenn das Lesen des Gesetzbuchs zu einer verfälschenden Idee des anwendbaren Rechts führt.

Dieselbe Schwierigkeit hat man heute mit den Konstruktionen der Rechtsprechung, die in einigen Fällen mit den Texten nichts mehr zu tun haben.

Zunächst muss man beachten, dass im Code Napoleon viele Lücken waren – und es gibt sie noch immer im schrift­lichen Text –, nicht nur bezüglich einzelner Fragen, aber manchmal ganze Sektoren des Zivilrechtes be­­treffend. Das ist besonders im Schuldrecht zu beobachten. So haben die Verfasser des Code civil keinen Artikel über den dynamischen Bildungsvorgang des Vertrags formuliert: Nach der Lektüre von Artikel 1108 weiß man nur, dass der Wille (le „consentement”) ein grundlegendes Element des Vertrags ist, man weiß aber nicht wie und wann der Wille der Parteien den Vertrag bildet. Es war Aufgabe der französischen Recht­sprechung, von der Rechtslehre unterstützt, die Regeln über diese Fragen zu begründen. Ebenso finden wir im Code civil fast nichts über die Nichtigkeit des Vertrags, außer einigen einzelnen und sehr unklaren Arti­keln. Alles was heute bezüglich dieser Frage Gültigkeit hat, alles was ich meinen französischen Studenten dies­­bezüglich lehren kann – und besonders der wesentliche Unterschied zwischen „relativer” und „absoluter” Nichtigkeit - ist das Werk der Rechtslehre und der Rechtsprechung. So auch die Regeln, die für die einseitigen Rechts­geschäfte anwendbar sind, weil der Code nur den Vertrag, nicht aber das Rechtsgeschäft im allgemein kennt.

Bezüglich anderer Fragen waren die Regeln im Code civil zu finden. Die französische Dogmatik aber hat aus diesen Texten ganz verschiedene Konstruktionen entwickelt, in denen die Verfasser des Code civil wahrscheinlich nichts mehr von ihrem Werk erkennen würden! Zwei Beispiele dazu. Das erste ist das berühmteste: Ich spreche hier von der Rechtsprechung über die Artikel 1382 bis 1386, die die Delikthaftung regeln. Im Sinne des Code Napoleon war das Verschulden der normale Grund der Haftung und die Bedingung für einen Schadensersatzanspruch? Der Code kannte nur zwei Fälle der Haftung ohne Verschulden: Die Haftung für Tiere und die Haftung für verfallene Gebäude, die in der generellen Formel des Artikels 1384 angekündigt festgestellt? wurden. In ihrer berühmten Entscheidung „Jandheur” von 1930 hat die französische Cour de cassation dieses System zur Explosion gebracht: Sie sah im Artikel 1384 ein allgemeines Prinzip der Haftung ohne Verschulden für jeden Schaden, der von einer Sache verursacht wurde. Die Artikel 1382 bis 1386 waren nie geändert worden, nur in Einzelheiten. Unser System der Delikthaftung hat aber mit dem ursprünglichen System nichts mehr zu tun. Ich werde für mein zweites Beispiel im Rahmen des Schadens­ersatzrechts bleiben, jetzt aber über die Verhältnisse zwischen vertraglicher und deliktischer Haftung sprechen. In einem viel beachteten Artikel *7 hat Prof. P. Rémy unterstützt, dass im Code civil jenes, was wir heute „vertragliche Haftung” nennen, keine Haftung im modernen Sinn ist, also die Pflicht einen Schaden zu reparie­ren, sondern die Verpflichtung einen gleichwertigen Ersatz zur Verfügung zu stellen. Die Partei, die den Vertrag nicht erfüllt hat, muss diese Pflicht anders, mit der Zahlung einer Geldsumme, erfüllen, auch wenn die andere Partei keinen Schaden erlitten hat. Die moderne Fassung, die hier eine Schadensersatzpflicht sieht, wäre, P. Remy folgend, eine Erfindung Planiols vom Ende des 19. Jahrhunderts.

Es ist umstritten, ob wir an der ursprünglichen Fassung festhalten sollten, und die meisten Autoren denken es wäre besser eine Veränderung vorzunehmen. Man kann aber der Ansicht sein, dass wir jetzt eine dogmatische Konstruktion haben, die eine schwere Diskrepanz gegenüber dem Text und auch dem Geist des Code gegenüber civil darstellt. Man könnte natürlich viele andere Beispiele geben: Was bleibt heute bezüglich der Doktrin von Vertragsketten und Vertragsgruppen vom Artikel 1165 über die relative Wirkung des Vertrags? Hat der Artikel 1184 noch eine Bedeutung, seit die Cour de cassation 1998 und 2001 entschieden hat, dem Gläubiger gegen schlimme Nichterfüllungen ein einseitiges Kündigungsrecht zu geben? *8 Und was kann man heute vom Erfüllungszwang eines Vertrags verstehen, wenn man den Artikel 1142 liest, der diesen Zwang ausdrücklich ausschließt, während dagegen die Rechtsprechung seit dem 19. Jahrhundert dem Gläubiger ein Recht zur Erfüllung des Vertrags zugesteht?

Kann man solchen Diskrepanzen gegenüber noch von der Anpassungsfähigkeit des Code civil sprechen? *9 Sind sie nicht im Gegenteil der Beweis, dass der Code civil überholt ist? Kann man nicht, wie der schon zitierte Marcel Fontaine im belgischen Buch des zweihundertjährigen Jubiläums sagen: Dieser Code civil, den man so glänzend feiert, ist nur ein Gespenst!? Im selben Sinn fragt P. Rémy, ob der Code nicht schon längst tot ist, „tot, nachdem er zu lange gelebt hat”. „Haben wir noch ein Gesetzbuch?”, fragt dieser Autor. *10 Diese Formulierungen sind sicherlich übertrieben. Es bleiben im Code civil noch viele Begriffe, viele Konstruktionen, die lebendig sind und die das Denken der französischen Juristen tief prägen: Der Konsensualismus der Eigentumsübertragung, unsere Fassung des Vertrags mit seinen vier Grundelementen. Jedoch kann man sagen, dass der Code civil, den wir heute in Frankreich anwenden und lehren, ein anderer Code civil ist, als der, den man lesen kann. Wenn man davon ausgeht, dass eine der Funktionen eines Ge­­setz­buches ist, den Zugang zum Recht leichter zu machen, ist diese Diskrepanz natürlich keine gute Sache. *11  

Es kommt heute nicht in Frage, unseren ganzen Code civil neu zu gestalten, aber zumindest muss man die bis jetzt unveränderten Teile überprüfen, um sie mit dem tatsächlichen Recht in Einklang zu bringen. Das war der erste Zweck der beiden Revisionskommissionen, die in den Jahren 2003 und 2004 zwei Teile des Gesetzbuchs bearbeitet haben. Eine offizielle, vom Justizministerium gebildete Kommission für Sicher­heitsrecht, hat im April 2005 ihren Bericht abgegeben, und dieser Teil des Code civil wird wahr­scheinlich im Laufe dieses Jahres völlig geändert werden. *12 Eine andere, inoffizielle, von Universitäts­professoren spontan gebildete, aber von der Regierung anerkannte Kommission stellt Überlegungen zur Anpassung des Schuldrechts an. Diese Gruppe sucht die wichtigsten Konstruktionen der Rechtsprechung in den Code zu integrieren, ohne die Lösungen grundlegend zu ändern.

Ist es aber noch sinnvoll, das in einer Periode zu tun, in der der Code civil und das französische bürgerliche Recht im Allgemeinen von außen bedroht zu sein scheinen?

2. Der zweihundertjährige Code civil:
Von außen bedroht?

In einer globalisierten Welt ist es natürlich unmöglich nur im Rahmen Frankreichs an die Zukunft des Code civil zu denken. Können die französischen Juristen vom internationalen Standpunkt aus heute bezüglich seiner Zukunft optimistisch sein? Auf den ersten Blick scheint ein zu großer Optimismus unsinnig, wenn man sieht, wie der Code civil als Modell weltweit und besonders in Europa an Einfluss verloren hat (A). Wir müssen aber diesen ersten negativen Eindruck überwinden, wenn wir wollen, dass unser System, unser Code civil, eine Rolle in der unvermeidlichen Bewegung in Richtung eines allgemeinen europäischen Privatrechtes spielen soll (B).

2.1. Der Code civil als Modell

Alle Juristen wissen, welchen Einfluss der Code civil in ganz Europa aber auch in anderen Teilen der Welt im 19. Jahrhundert hatte. *13 Dieser Einfluss war nicht nur eine Folge der napoleonischen Kriege und später des Kolonialismus, besonders in Afrika und im südwestlichen Asien. Viele Staaten haben auch im Laufe des 19. Jahrhundert das französische Gesetzbuch als Modell gewählt, nicht nur aufgrund seiner formellen Qualitäten, sondern auch weil der Inhalt dieses Gesetzbuches, das von den Idealen der französischen Revolution geprägt ist, auf die Bestrebung der Völker nach Freiheit gute Antworten fand. So kann man den wichtigen Einfluss des Code civil besonders in Südamerika erklären.

Jeder weiß aber auch, dass die Situation heute eine ganz andere ist. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der hundertjährige Code civil natürlich die Konkurrenz des jungen BGB und in geringerem Maße die des schweizerischen Gesetzbuches zu befürchten. Und viele Gesetzbücher, die ursprünglich fast nur Kopien des französischen waren, wurden durch Begriffe der pandektistischen Tradition erneuert. Der neue Codice civile in Italien von 1942 ist ein bekanntes Beispiel. Nach und nach hat der Code civil seine Rolle als wichtigstes Modell verloren. Die meisten neuen Kodifizierungen scheinen heute eine Mischung mehrerer Traditionen, wobei das common law oft eine Hauptrolle spielt und die Regeln, die aus dem französischen Recht kommen, ziemlich selten sind. So zum Beispiel der neue Code civil in Quebec. Auch in Afrika, wo viele Gesetzbücher dem französischen Code civil noch sehr nah sind, hat die OHADA, die jetzt ein allgemeines Vertragsrecht vorbereitet, ihr Modell in den Prinzipien des europäischen Vertragsrechts gefunden. Im Laufe eines Gesprächs mit meiner estnischen Kollegin Irene Kull war ich sehr erstaunt und ein bisschen bekümmert, weil sie als Quellen des neuen estnischen Gesetzbuches zwar das niederländische Gesetzbuch, das Common law, den Code civil von Quebec, von Louisiana und die Prinzipien für europäisches Vertragsrecht der Lando Kommission nannte. Kein Wort aber fiel über den französischen Code civil. So hat mit vollem Recht mein französischer Kollege Prof. Revet als Abschluss des Buches „Code civil et modčles” seinen Vortrag wie folgt gegliedert: „I - Le Code civil fut un modčle; II - Le Code civil n’est plus un modčle” (Der Code civil war ein Modell; Der Code civil ist kein Modell mehr). *14  

Man kann auch glauben, dass unser Code civil, der die staatlichen Gesetzgeber nicht mehr inspiriert, auch die Vertragsparteien im internationalen Handel nicht mehr interessiert, wenn sie für ihren Vertrag ein nationales Recht wählen. Auf dem Markt der Rechte der Welt ist vielleicht unser so traditionsreiches, so kompliziertes Vertragsrecht nicht sehr wettbewerbsfähig. Soll man deshalb mit Professor Denis Tallon, der in der Lando Kommission eine große Rolle spielte, schließen, dass unser Code civil die anderen Nationen nicht mehr interessiert oder selbst – ich zitiere ihn – dass er im Ausland ein „repoussoir” (Kontrastfigur) ist? *15  

Mit Sicherheit nicht! Ich glaube, dass der französische Code civil für viele ausländische Juristen sein enormes Prestige behalten hat. Und dieses Ansehen kann jeder ermessen, der die hohe Zahl der Kongresse und Kolloquien, die im Jahr 2004 in der ganzen Welt anlässlich des Jubiläums organisiert wurden, betrachtet. Ich habe ungefähr 36 Veranstaltungen über den alten Code gezählt: In Belgien natürlich, in Kanada, in Mexiko, in Peru, in Russland, in der Ukraine, im Libanon. Sicher bleibt unser Code in der Welt ein Monument der juristischen Wissenschaft. Das Problem ist, dass er nicht wie ein Museum besucht, wie ein Denkmal betrachtet werden darf. Er soll nicht nur ein lieu de mémoire sein, aber ein lebendiges Haus. Er darf nicht, wie die Schlösser des bayerischen König Ludwig II, nur eine schöne Ausstattung und vom Leben getrennt sein. Wir französischen Juristen müssen uns dringend davon überzeugen, wenn wir eine Rolle in der Gestaltung eines allgemeinen europäischen Privatrechts spielen wollen.

2.2. Der Code civil im Rahmen der Entstehung
eines allgemeinen europäischen Privatrechts

Im europäischen Rahmen nimmt diese Bewegung zwei sehr verschiedene Wege, die keine Bedrohung für den französischen Code civil zu sein scheinen.

Erstens muss man die Rechtsnormen erwähnen – Ordnungen und Rechtslinien – die von der Europäischen Gemeinschaft erlassen werden. Obwohl diese Texte zunächst keinen Einfluss auf das bürgerliche Recht hatten, bleibt der Code civil von diesen neuen Normen heute nicht mehr unberührt. So haben wir 1998 in Frankreich, als wir (sehr spät) die Richtlinie über Produktenhaftung umsetzten, in den Code civil in Artikel 1386-1 bis 1386-18, die den alten Artikeln über die Delikthaftung folgen, integriert. Diese Einbeziehung geht aber nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten, weil die von außen erlassenen Texte, an denen der Staats­gesetzgeber nichts ändern soll, nicht immer gut zur alten Struktur passen. In diesem konkreten Fall haben wir große Schwierigkeiten, um die neue Haftung mit dem Unterschied zwischen Delikthaftung und Ver­tragshaftung zu verbinden. So kann man verstehen, dass diese Regelungen von vielen französischen Juristen als Fremdkörper betrachtet werden. Deshalb bleiben diese europäischen Normen in den meisten Fällen außerhalb des Code civil. So wurde die Richtlinie über rechtsmissbräuchliche Klauseln in das Verbraucher­gesetzbuch integriert, auch wenn dieses Schutzmittel der schwachen Vertragsparteien jetzt ein wesentlicher Teil unseres Vertragsrechts ist. Durch eine endgültige Regelung vom 17. Februar 2005 hat die französische Regierung nach heftigen Auseinandersetzungen in der Rechtslehre die Richtlinie von 1999 zu bestimmten Aspek­ten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter in das Ver­brauchergesetzbuch umgesetzt, ohne (wie z.B. in Deutschland und Österreich) die Gelegenheit zu ergreifen, die alten Texte des Code civil mit der unklaren Unterscheidung zwischen Defekt und Vertragswidrigkeit zu erneuern. So haben wir jetzt in Frankreich drei verschiedene Regelungen der Garantie: Die allgemeine im Code civil, die in der Wiener Konvention für internationale Kaufsverträge geltende und die europäische Regelung für Verbraucher! In diesen Fällen hat man die Reinheit des Code civil bewahrt, man trägt aber dazu bei, den Code civil von dem in den meisten Fällen anwendbaren Recht zu trennen.

Eine ganz andere Frage stellt sich zu den aktuellen Entwürfen allgemeiner Privatrechtregelungen im Rahmen Europas. Diese Entwürfe stammen nicht von den europäischen Behörden, auch wenn die Kommission sie heute übernimmt. Sie sind in den Universitäten geboren, sie sind Werke der Rechtslehre und entstanden im Rahmen einer wissenschaftlichen Tradition, die in einigen Fällen im historischen und besonders im romanistischen Erbe die Wege einer Erneuerung des Privatrechts sucht. Hier denke ich besonders an die „Prinzipien des europäischen Vertragsrechts” der Lando Gruppe, an das „Europäische Vertragsgesetzbuch” der Akademie europäischer Privatrechtswissenschaftler und noch mehr an den Entwurf eines europäischen Gesetzbuches unter der Leitung von Professor von Bar. Bezüglich dieser Entwürfe sind noch heute viele französische Juristen sehr reserviert und zeigen in nicht wenigen Fällen eine eindeutig Abneigung *16 . Als Professor von Bar vor zwei Jahren vor der französischen Cour de cassation einen Vortrag hielt, und (vielleicht unvorsichtig) vorhersagte, dass in fünf Jahren der europäische Code civil in allen Universitäten studiert werden würde, konnte man in den französischen Fachzeitschriften sehr heftige Reaktionen lesen *17 – einige aus wenig sachlichen Gründen: Zum Beispiel, dass die Sprache in den Sitzungen dieser Gruppen englisch und nicht französisch sei oder dass von Bars Entwurf ein Mittel der deutschen Hegemonie in Europa wäre! Tatsächlich empfinden es viele französische Juristen als schwer erträglich, dass der so eng mit der nationalen Kultur verbundene Code civil in einigen Jahren von einem neuen, seelenlosen Gesetzbuch ersetzt werden könne. So betreiben heute viele die „Politik des leeren Stuhls” und meinen so an der Erhaltung unserer rechtlichen Tradition mitzuwirken.

Meiner Ansicht nach ist dieses Abkapselungsverhalten sehr schädlich. Wenn wir etwas von unserem Code civil retten wollen, müssen wir es akzeptieren, unsere Regeln mit anderen Traditionen zu konfrontieren. Wir dürfen unsere Begriffe und unsere Strukturen nicht außerhalb der Diskussion belassen. Jedes Jahr nehme ich mit Kollegen aus ganz Europa in Salzburg an einer „Summerschool” teil, wo wir einige Aspekte der nationalen Privatrechte vor Studenten (die auch aus ganz Europa kommen) vergleichen. Oft arbeiten wir am Beispiel der Eigentumsübertragung und wir sehen, dass, auch wenn die Begriffe sehr verschieden zu sein scheinen, die Lösungen nicht immer so weit voneinander entfernt sind. Das ist eine der wichtigsten Lektionen des Rechtsvergleiches und ich denke, ich hoffe, dass eine bessere Kenntnis der verschiedenen europäischen Rechte langsam zu einer fast „natürlichen” Harmonisierung des bürgerlichen Rechts in Europa führen wird. Sicher ist dieses Umdenken nicht immer leicht für Juristen meiner Generation, die noch zu oft Gefangene ihrer Traditionen sind; besonders für französische Juristen, die lange überzeugt waren, dass ihr Code der König der Gesetzbücher ist. Im Einklang mit anderen französischen Juristen *18 denke ich, dass unsere Mit­wirkung bei der Entwicklung des allgemeinen Privatrechts eine Notwendigkeit ist, damit ein Teil der Seele unseres Rechts, und besonders unseres französischen Code civil, sich in diesem allgemeinen Recht wieder­findet.

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pp.35-41