From Transition to Accession: A New Era of Estonian Constitutional Thinking
VII/2002
ISBN 9985-870-13-1
Issue
1. Einführung
Im Mittelalter glaubten die Menschen, die Erde sei das Zentrum der Welt; um die – nach jenem Glauben – nicht sich bewegende Erde kreisten danach die anderen Planeten. Aufgrund wissenschaftlicher Berechnungen gelangte der Astronom Nikolaus Kopernikus zu der Überzeugung, dass diese geozentrische Sicht ein Irrtum sei. Das damals neue kopernikanische Weltbild stieß sowohl auf Widerspruch als auch auf Zustimmung. Die berühmteste Unterstützung erhielt das kopernikanische System durch den Mathematiker und Philosophen Galileo Galilei. Sein im Jahre 1632 in Florenz erschienenes Werk „Dialogo“, ein „Gespräch über das ptolemäische und das kopernikanische Weltsystem“, in dem er seine Parteinahme für Kopernikus deutlich zeigte, führte zu einem Kirchengerichtsprozess gegen Galilei. Der Prozess endete damit, dass der Angeklagte seine wissenschaftliche Auffassung widerrufen musste, und dass er zu einer unbefristeten Haftstrafe verurteilt wurde. Der ihm später zugeschriebene, bei der Urteilsverkündung abgegebene Kommentar: „Und sie (die Erde) bewegt sich doch“ ist zwar inhaltlich richtig, aber wohl nur eine Legende. Jedenfalls: Das Urteil gegen Galilei war, wie wir heute wissen, und wie es schon die wissenschaftlichen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts bewiesen, ein Fehlurteil. Aber erst 1992 erklärte Papst Johannes Paul II. die im Jahre 1633 erfolgte Verurteilung des Galilei als ungerechtfertigt. Zwischen der Verurteilung und der Rehabilitierung lagen also 359 Jahre.
Heute geht es bei der Freiheit der Forschung nicht mehr darum, ob die Erde sich bewegt, sondern vor allem um medizinische und biologische Forschung, vor allem um Gen-Forschung. Die wissenschaftliche Entwicklung ist scheinbar grenzenlos geworden. Die erste Transplantation eines lebenden Herzens durch den südafrikanischen Chirurgen Christian Barnard 1967 war noch eine medizinische Sensation; inzwischen sind Herztransplantationen schon fast Routine. Schon kann man die Frage stellen: Wann kommt die Verpflanzung eines kompletten Gehirnes? Die künstliche Befruchtung (in-vitro-Fertilisation) ist bereits so alltäglich, dass deren Kosten von den Krankenkassen erstattet wird. Diskutiert wird unter Medizinern, ob es künftig möglich sein wird, einen Embryo in einen Mann einzupflanzen, damit dieser die Schwangerschaft austrägt; auch von „Designer-Babys“ ist bereits die Rede, bei denen die Eltern durch genetische Veränderungen vor der Geburt, das Aussehen oder andere natürliche Eigenschaften des Embryos verändern. *1 Haarfarbe, Augenfarbe, vielleicht sogar die Hautfarbe ihres Kindes können Eltern vermutlich in Zukunft selbst bestimmen. Die neueste, aktuelle Kontroverse über die Grenzen der Freiheit der Wissenschaft betrifft die sogenannte Stammzellenforschung (Präimplantationsdiagnostik) *2 und das Klonen von Lebewesen, das mit dem bekannten Schaf „Dolly“ in Schottland bereits geschehen ist, hinsichtlich von Menschen aber in Deutschland gem. Embryonenschutzgesetz verboten ist. *3 Eine Weltpremiere von besonderem Interesse bildet auch das estnische Gesetz über Humangenomforschung vom 13. Dezember 2000 *4 (in Kraft seit dem 8.1.2001), das großes Interesse außerhalb der Republik Estland gefunden hat. *5
2. Begriffe „Wissenschaft“ und „Wissenschaftler“
Wer sich mit der Freiheit der Wissenschaft befasst, muss zunächst klären, was unter dem Begriff „Wissenschaft“ überhaupt zu verstehen ist. Der normale Bürger, also der Laie, wird mit dem Begriff „Wissenschaft“ keine Probleme haben. Er wird den Begriff „Wissenschaft“ mit der „Forschung“ identifizieren, die an Hochschulen (insbesondere an Universitäten) stattfindet. Für Juristen ist die Bestimmung des Begriffs der Wissenschaft dagegen nicht ganz so einfach. *6 Der Jurist muss z. B. die Fragen stellen, ob es – juristisch gesehen – einen Unterschied gibt zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung, und ob auch die Forschung in Industrieunternehmen, z. B. in der pharmazeutischen Industrie, den Begriff der wissenschaftlichen Forschung erfüllt. Andere, rechtlich relevante Fragen sind: Ist das Ingenieurwesen nur Technik oder Wissenschaft? Ist Architektur Wissenschaft oder Kunst oder keines von Beidem? Das Stichwort „Kunst“ weist übrigens für unsere verfassungsrechtliche Betrachtung eine interessante Parallele zum Stichwort „Wissenschaft“ auf, nämlich die Schwierigkeit der rechtlichen Definition dieser Begriffe. In Bezug auf den Begriff „Kunst“ ist in der Bundesrepublik Deutschland sogar die Meinung vertreten worden, „Kunst“ sei juristisch nicht definierbar. *7 Diese Resignation erinnert paradoxerweise an den eher optimistischen Ausspruch des bekannten Künstlers Joseph Beuys: „Alles ist Kunst, jeder ist Künstler.“ Die Versuche der Rechtsprechung deutscher Gerichte den Begriff „Wissenschaft“ zu definieren, enden leider meist in ziemlich vagen Formulierungen. So hat das Bundesverfassungsgericht früher wissenschaftliche Tätigkeit definiert als „alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter, planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.“ *8 Diese Definition ist gewiss nicht falsch, aber sie provoziert – indem sie auf die Ermittlung der Wahrheit abstellt – die uralte, schon in der Bibel aufgeworfene Frage: Was ist Wahrheit?
Vermutlich ist es am sinnvollsten, einzelne Elemente der Wissenschaft wie Bausteine zusammenzutragen. Solche Elemente (Bausteine) sind: eine nationale, planmäßige Tätigkeit, lege artis, mit dem Bestreben neue Erkenntnisse zu finden oder bereits vorhandene Erkenntnisse zu präzisieren oder fortzuführen, mit Ergebnissen, die beweisbar oder jedenfalls diskutierbar sind. Kriterien der Wissenschaft sind also insbesondere Methodik, Systematik, Rationalität, Erkenntnisstreben, Recherche und Kommunikation. Das Erfordernis planmäßiger Tätigkeit schließt wissenschaftliche Zufallsfunde nicht aus. Auch ist immer zu bedenken, dass der Begriff „Wissenschaft“ viele, im Einzelnen sehr unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen umfasst. Große Unterschiede in der Art der Gewinnung von Erkenntnissen bestehen vor allem zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den Geisteswissenschaften andererseits. Aber auch innerhalb der Geisteswissenschaften ist die wissenschaftliche Arbeit z. B. in der Rechtswissenschaft eine andere als in der Theologie, obwohl die Interpretation als Erkenntnismethode in der Rechtswissenschaft der Exegese von biblischen Texten in der Theologie ähnelt.
Wissenschaft beruht stets auf Forschung: Die Forschung ist das Essentielle der Wissenschaft. Es gibt keine Wissenschaft ohne Forschung und keine Forschung ohne Wissenschaft. Dagegen ist Wissenschaft nicht notwendig mit der Lehre verbunden, d. h. mit der Vermittlung der Forschungsergebnisse an Studenten. Es gibt Forschungsinstitute, wie in Deutschland die Institute der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft, in denen die meisten Mitarbeiter forschen, aber nicht zugleich lehren. Umgekehrt setzt wissenschaftliche Lehre vorangehende wissenschaftliche Forschung voraus: Während also wissenschaftliche Forschung ohne darauf aufbauende wissenschaftliche Lehre möglich ist (und praktiziert wird), ist wissenschaftliche Lehre ohne vorangegangene wissenschaftliche Forschung nicht denkbar.
Die Hochschullehrer sind die klassischen und typischen Wissenschaftler (wobei die rechtliche Organisationsform ihrer Institution – staatliche Universität oder private Universität/Hochschule – für den Begriff „Wissenschaft“ keine Rolle spielt, also unbeachtlich ist), aber die Hochschullehrer sind nicht die einzigen Wissenschaftler. Der Begriff „Wissenschaftler“ definiert sich nämlich nicht nach einem Status in einer Hierarchie, sondern aus seiner eigenverantwortlichen Tätigkeit. Deshalb können auch wissenschaftliche Mitarbeiter (Assistenten), Doktoranden *9 , ja sogar Studenten dann als Wissenschaftler angesehen werden, wenn sie wissenschaftlich arbeiten, was der Fall ist, wenn sie selbstständig eine wissenschaftliche Arbeit publizieren.
Für Freiheit der Wissenschaft ist schließlich auch wichtig, dass der Begriff „Wissenschaft“ nicht mit Nützlichkeitserwägungen befrachtet und belastet werden darf. Die Meinung, dass schon zum Begriff der Wissenschaft eine Tätigkeit zum Nutzen der Allgemeinheit, d. h. zum allgemeinen Wohl, gehöre, ist mit Nachdruck zurückzuweisen. Wie der Begriff der Kunst („l’art pour l’art“), so ist auch der Begriff „Wissenschaft“ nicht an Kosten/Nutzen-Analysen gebunden. Zur Freiheit der Wissenschaft gehört, dass die Wissenschaft gerade nicht staatlichen oder gesellschaftlichen Interessen zuarbeiten muss. Auf einem anderen Blatt seht allerdings, dass wissenschaftliche Forschung, die zu politisch oder ökonomisch verwertbaren, nützlichen („Dividende bringenden“) Ergebnissen kommt, meist mehr Aufmerksamkeit, mehr Beifall und auch mehr finanzielle Förderung erfährt als Wissenschaft nur um der Wissenschaft willen.
3. Rechtliche Regelungen
Eine andere Frage als die nach etwaigen dem Begriff „Wissenschaft“ immanenten Grenzen ist, ob wissenschaftliche Tätigkeit durch rechtliche Regelungen eingeschränkt werden kann. Als rechtliche Regelungsinstrumente kommen in Betracht: Bestimmungen in der Verfassung des Staates, in einfachen Gesetzen und in internationalen Verträgen. Die Verfassungen der Staaten garantieren traditionell die Freiheit der Wissenschaft. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (das „Grundgesetz“) und die Verfassung der Republik Estland enthalten diese Garantie in einer fast identischen Formulierung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland formuliert in Artikel 5 Absatz 3 Satz 1: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Die Verfassung der Republik Estland bestimmt in § 38 Absatz 1: „Wissen und Kunst und deren Lehre sind frei.“
Die nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen anscheinend unbegrenzte Freiheit der Wissenschaft unterliegt in Wahrheit nicht wenigen Beschränkungen. Soweit die Organisation der Universitäten betroffen ist, existieren Universitätsgesetze, welche Einzelheiten der universitären Organisation regeln. Die Verfassung der Republik Estland enthält in § 38 Absatz 2 die Bestimmung: „Universitäten und Forschungsinstitute sind innerhalb der gesetzlich festgelegten Grenzen autonom.“ Eine solche Bestimmung ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vorhanden. Dennoch ist insoweit die verfassungsrechtliche Lage in Deutschland nicht anders als in Estland. Die Befugnis des Staates, die Organisation der wissenschaftlichen Forschung und der wissenschaftlichen Lehre zu regeln, ergibt sich in Deutschland daraus, dass das Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft nicht nur als ein subjektives Recht des einzelnen Wissenschaftlers angesehen wird, sondern auch (zusätzlich) als eine Organisationsmaxime, die organisationsrechtliche Regelungen des Universitätsbetriebes nicht nur ermöglicht sondern sogar erfordert.*10 Organisationsrechtliche Regelungen sind aber nicht nur in staatlichen Gesetzen, wie den schon erwähnten Universitätsgesetzen, zu finden, sondern auch in autonomen Regelungen der Universitäten und Fakultäten selbst. Beispiele hierfür sind die universitären Prüfungsordnungen, wie Magisterprüfungsordnungen und Promotionsordnungen. Eine Besonderheit gilt in Deutschland für das juristische Studium, dessen Abschlussexamen nicht ein Universitätsexamen ist, sondern ein Staatsexamen, das durch staatliche Rechtsvorschriften geregelt ist und das von einem staatlichen Prüfungsamt beim Oberlandesgericht durchgeführt wird *11 ; die Prüfungskommission besteht jeweils zur Hälfte aus Richtern oder Staatsanwälten als Praktikern und aus Professoren als Repräsentanten der Wissenschaft. Jedenfalls gilt für alle Wissenschaftsdisziplinen: Schon um ein faires Prüfungsverfahren *12 und Rechtssicherheit im Sinne von Berechenbarkeit zu garantieren, müssen die Prüfer an rechtliche Regeln gebunden sein. Soweit die Wissenschaftler an staatlichen Universitäten forschen und lehren, sind sie in der Regel Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst und unterliegen damit den für sie geltenden gesetzlichen oder dienstvertraglichen Regelungen, z. B. hinsichtlich der Pflicht zur Verschwiegenheit. Dementsprechend unterliegen die meisten Wissenschaftler (wie auch die Universitäten insgesamt) der Rechtsaufsicht durch den Staat, d. h. durch das zuständige Ministerium. Grundsätzlich gilt hochschulpolitisch: Je weniger der Staat sich in die Universitäten einmischt, umso besser ist dies für die Universitäten und für den Staat selbst. Umgekehrt gilt: Je besser die Universitäten sind, umso weniger besteht Anlass oder Vorwand für den Staat, sich in die inneren Angelegenheiten der Universitäten einzumischen.
Bei den gesetzlichen Regelungen des Staates wie auch bei den inneruniversitären (autonomen) Ordnungen spielt die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen eine große Rolle. Es gibt nämlich zahlreiche Gesetze, die zwar theoretisch für alle Wissenschaftler gelten, die aber in der Praxis nur für eine einzige Wissenschaftsdisziplin oder nur für einige wenige Wissenschaftsdisziplinen faktisch relevant sind. So gilt z. B. das Embryonenschutzgesetz für (oder besser gesagt: gegen) jeden Wissenschaftler; in der Praxis ist aber davon tatsächlich nur die medizinische und biologische Forschung betroffen. Gleiches gilt für ein Tierschutzgesetz und für die Bioethik-Konvention des Europarates, um ein internationales Abkommen zu nennen. Bestimmte Sicherheitsvorschriften für die Lagerung von gefährlichen Materialien sind theoretisch von jedem Staatsbürger zu beachten; in der Praxis spielen diese Vorschriften aber nur (oder jedenfalls vor allem) eine Rolle in chemischen oder physikalischen Instituten.
Die Rechtswissenschaft ist, wie jede andere Wissenschaftsdisziplin, ein buntes Mosaik mit vielen verschiedenen Facetten. Unter dem Dach der Rechtswissenschaft leben die Rechtsphilosophie, die Rechtsgeschichte, die Rechtssoziologie, die Rechtsvergleichung, die Methodenlehre, und vor allem die Erforschung und Lehre des geltenden Rechts. Die Hauptgebiete des geltenden Rechts, also das Zivilrecht, das Strafrecht und das öffentliche Recht, sind ihrerseits in spezielle Rechtsgebiete unterteilt, z. B. Familienrecht, Erbrecht, Handelsrecht, Arbeitsrecht, Medizinrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Prozessrecht usw. Für alle diese Rechtsgebiete gilt, dass der Rechtswissenschaftler in seinen Forschungen und in der Lehre sich auf diesem Boden bewegen muss. Aber er kann Luftsprünge machen: Der Rechtswissenschaftler ist in einem freien Staat, wie es die Republik Estland und die Bundesrepublik Deutschland sind, frei, geltende gesetzliche Regelungen zu kritisieren. Der Rechtswissenschaftler hat geradezu die Aufgabe, auf Schwachstellen gesetzlicher Regelungen hinzuweisen und Vorschläge zur Veränderung des geltenden Rechts zu machen sowie vor problematischen Reformen des Rechts zu warnen. *13 Sogar das geltende Verfassungsrecht darf der Rechtswissenschaftler in Frage stellen. Ich möchte dafür ein Beispiel nennen: Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verbietet *14 , ebenso wie die Verfassung der Republik Estland (§ 18 Absatz 1), die Anwendung von Folter gegen Gefangene. An dieses verfassungsrechtliche Verbot sind alle staatlichen Behörden gebunden, insbesondere die Polizei. Dennoch war es zulässig, dass kürzlich ein deutscher Rechtswissenschaftler, nämlich der Professor für öffentliches Recht an der Universität Heidelberg, Professor Wilfried Brugger, die uneingeschränkte Geltung des Verbotes der Folter in Frage gestellt hat. *15 Professor Brugger hat nämlich in einer rechtswissenschaftlichen Abhandlung die Frage aufgeworfen und bejaht (!), ob in ganz besonderen Ausnahmefällen die Anwendung von Folter – entgegen dem Wortlaut der Verfassung zulässig sein kann. Er nennt den Fall, dass der Polizei bekannt ist, dass ein schwerer terroristischer Anschlag z. B. gegen ein Atomkraftwerk geplant ist, dass die Polizei aber nicht weiß, wann und wo und wie der terroristische Anschlag stattfinden wird. Die Polizei könnte jedoch von bereits verhafteten Komplizen der Terroristen diese Informationen erhalten, aber – da eine freiwillige Information seitens der Verhafteten nicht erfolgt – nur durch Anwendung von Folter.
In diesem Diskussionsbeitrag von Professor Brugger liegt eine Kritik an einer einzelnen Verfassungsbestimmung. Eine solche Kritik ist zulässig. Zur Freiheit der Wissenschaft gehört unabdingbar die Freiheit zu kritischem Denken. Eine verfassungsrechtliche Grenze setzt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nur hinsichtlich der Freiheit der Lehre: Gemäß Artikel 5 Absatz 3 Satz 2 entbindet die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung. Damit ist nicht eine Kritik an einzelnen Verfassungsbestimmungen gemeint. Gemeint ist vielmehr, dass der akademische Lehrer den Universitätsunterricht nicht als politische Agitation gegen die Grundlagen der Verfassung missbrauchen darf, also insbesondere das Prinzip der Demokratie und das Prinzip des Rechtsstaates nicht aktiv in seinen Vorlesungen bekämpfen darf.
4. Ethik in der Rechtswissenschaft
Ethik im Recht ist ein uraltes Thema. Erinnert sei an die Geschichte der Antigone, an das Urteil des Salomo, an die Planke des Karneades, an Fälle von Kannibalismus nach einem Schiffsunglück und an den Tyrannenmord. Beispiele für tragische und scheinbar unauflösbare Situationen gibt es in der Dichtung und im realen Leben genug.
Die Ethik des Rechts ist die Gerechtigkeit. Die Idee der Gerechtigkeit kann allerdings in der Praxis nicht immer der verpflichtende Maßstab jedes Juristen sein. Beispielsweise kommt ein Rechtsanwalt mehr als einmal in seinem beruflichen Leben in die Situation, dass er einem Mandanten in einem Strafprozess verteidigen oder in einem Zivilprozess vertreten muss, obwohl er (der Rechtsanwalt) weiß, dass er damit nicht auf der Seite der Gerechtigkeit steht. Anders ist die Lage des Richters und des Rechtsanwaltes. Der Richter ist gemäß Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz „an Gesetz und Recht gebunden“ *16 und damit auch an die Gerechtigkeit. Der Rechtswissenschaftler unterliegt zwar, anders als der Richter, in seiner Forschung nicht einer solchen strikten Bindung an Gesetz und Recht. Aber der Rechtswissenschaftler gibt sich selbst auf, wenn er nicht für die Gerechtigkeit forscht und lehrt.
In der Praxis des akademischen Lehrers ist für die Studenten besonders wichtig die Gerechtigkeit bei der Beurteilung von Prüfungsleistungen der Studenten und Doktoranden. Der Prüfer muss die Noten ohne Ansehen der Person des Prüflings festsetzen. Der Prüfer darf z. B. Frauen weder bevorzugen noch benachteiligen. Der Prüfer darf sich nicht durch persönliche Bekanntschaften korrumpieren lassen. In Deutschland werden die schriftlichen Arbeiten in den juristischen Staatsexamen anonym geschrieben, was ich für richtig halte. Die Arbeiten während des Studiums, z. B. Seminararbeiten, sowie Doktorarbeiten werden dagegen natürlich nicht anonym geschrieben.
Für Rechtswissenschaftler gibt es keinen allgemein verbindlichen, für alle geltenden Ethik-Kodex. Jedoch gibt es Verhaltensregeln für einige wissenschaftliche Gesellschaften, z. B. für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und für die Max-Planck-Gesellschaft. Wenn ein Rechtswissenschaftler mit diesen Institutionen in Verbindung tritt, gelten jene Verhaltensregeln auch für ihn. Jedoch enthalten diese Verhaltensregeln eigentlich nur Selbstverständlichkeiten, z. B. das Verbot des Plagiats, das Verbot der Fälschung von Zitaten oder von Quellen etc. Ganz allgemein wird man feststellen können, dass Rechtswissenschaftler sicherlich keine besseren Menschen sind als die Wissenschaftler anderer Disziplinen. Aber die Versuchungen und Gefahren, ein wissenschaftliches Fehlverhalten zu begehen *17 , d. h. sich unmoralisch oder unethisch zu verhalten, sind in der Praxis des Rechtswissenschaftlers weitaus geringer als in der Medizin und in den Naturwissenschaften. *18 Die Tätigkeit vieler Mediziner und Naturwissenschaftler, insbesondere in der modernen Biomedizin, Biochemie und Biophysik *19 , ist mit sehr viel größeren ökonomischen Anreizen und Vorteilen verbunden als die Tätigkeit des Rechtswissenschaftlers. In den Naturwissenschaften und in den Ingenieurwissenschaften spielt z. B. die Anmeldung von Erfindungen (sogenannte Patente) eine große Rolle. In der Rechtswissenschaft gibt es zwar auch gelegentlich Entdeckungen, aber keine geldwerten Erfindungen. Rechtswissenschaftliche Forschungen sind auch nicht so sensationell wie die Spaltung des Atomkernes oder die Transplantation eines Herzens.
Wo liegen – unter dem Aspekt der Ethik – Gefährdungen des Rechtswissenschaftlers? Ich sehe solche Gefährdungen nicht in Bezug auf die äußere Unabhängigkeit des Rechtswissenschaftlers, sondern in Bezug auf seine innere Unabhängigkeit: Eine zu große Nähe zur Politik, insbesondere zur Parteipolitik, kann dazu führen, dass der Rechtswissenschaftler seine wissenschaftliche Auffassung (bewusst oder unbewusst) den von den Politikern gewünschten Ergebnissen anpasst. Eine zu große Nähe des Rechtswissenschaftlers zu großen Wirtschaftsunternehmen oder zu Organisationen wie z. B. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kann dazu führen, dass der Rechtswissenschaftler (wiederum bewusst oder unbewusst) deren Interessen vertritt; dies gilt insbesondere dann, wenn der Rechtswissenschaftler bezahlte Rechtsgutachten im Auftrag eines Wirtschaftsunternehmens oder einer Organisation erstellt, was in Deutschland nicht selten der Fall ist *20 , insbesondere im Gebiet des Wirtschaftsrechts. Eine besondere Gefährdung der inneren Unabhängigkeit kann dadurch eintreten, dass der Rechtswissenschaftler Einflüssen der Massenmedien (Presse, Hörfunk, Fernsehen) unterliegt. Die Medien wollen fast immer eine bestimmte Meinung (nämlich ihre eigene) hören, d. h. sie wollen vom Rechtswissenschaftler eine Bestätigung. Der Rechtswissenschaftler sollte in solchen Situationen die innere Unabhängigkeit besitzen, der sogenannten „political correctness“ oder dem „main stream“ der veröffentlichten Meinung (die nicht immer identisch ist mit der öffentlichen Meinung) sich gerade nicht anzuschließen.
Dies alles ist eigentlich selbstverständlich, jedenfalls in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Ganz andere Herausforderungen stellen sich an den Rechtswissenschaftler in einem Staat unter einem totalitären Regime, wie es Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus und Ostdeutschland und Estland in der Zeit des Kommunismus erlebt haben. Wie kann und wie muss der Rechtswissenschaftler mit Gesetzen umgehen, die gerade nicht die Gerechtigkeit verkörpern sondern staatliches Unrecht? In totalitären Regimen ist der Rechtswissenschaftler der Gefahr der politischen Korrumpierung und damit der Gefahr des Verlustes des Ethos des unabhängigen Wissenschaftlers viel stärker ausgesetzt als z. B. der Mediziner.
Ethik ist prinzipiell immer eine Herausforderung an den Einzelnen. Totalitäre Regime wollen den Einzelnen vergesellschaften, d. h. kollektivieren. Ob der Einzelne sich in einem totalitären Regime kollektivieren lässt, hängt von ihm selbst ab. Aber vermutlich kann nur derjenige darüber gerecht urteilen, der selbst unter einem totalitären Regime gelebt hat.
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