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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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The Law of Obligations: Developments in Estonia and in Europe

XX/2013
ISBN 978-9985-870-32-7

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Das römischrechtliche precarium im deutsch-baltischen und estnischen Recht: eine Besonderheit aus der estnischen Rechtsgeschichte

Einleitung

Das antike römische Recht kannte einen vermögensrechtlichen Vertrag, der für die heutigen Privatrechtsordnungen kaum noch bekannt erscheint: precarium. Die Hauptquelle für unsere Kenntnisse über das römische precarium sind die Digesten, die auf Befehl des Kaisers Justinian in den Jahren 530–533 zusammengestellt sind und die die Fragmente der Juristenschriften aus der klassischen Zeit (27 v Chr – 283 n Chr) enthalten. Der 26. Titel des 43. Buches der Digesten heißt de precario und behandelt in 22 Fragmenten die unentgeltliche Überlassung zum freien Gebrauch. Zum precarium konnten sowohl körperliche Sachen als auch die Rechte wie die Wegedienstbarkeit (Dig. 43.26.3) gegeben werden. Von körperlichen Sachen werden in den Quellen Sklaven und Sklavinnen und auch Land genannt (Dig. 43.26.2.3; 43.26.6.2; 43.26.10.). Die Überlassung des Landes zum freien Gebrauch von Patronen an Klienten hat ihren Ursprung wahrscheinlich auch im precarium. *1 Viel mehr weiß man über den Anwendungsbereich dieses Vertrages im antiken Rom nicht.

Auch im Mittelalter hat das gemeineuropäische ius commune das antike römische precarium beibehalten. Helmut Coing bleibt in seiner Gesamtdarstellung des älteren ius commune in dem Punkt dieses Nachlebens von precarium allerdings sehr knapp und sagt nur, dass es ebenso verwendet wurde „wie es im Corpus Iuris erscheint”. *2 Etwas näher behandelt Coing den Schwestervertrag des kanonischen Rechts, precaria, der von der Kirche verwendet wurde, um ihr Land für die willigen Leute auf deren Bitte zur Nutzung zu geben. Insoweit war der Vertrag damals ähnlich etwa der Bittleihe oder der Erbleihe oder dem Erbzins *3 oder noch weiteren vielfältigen Rechtsfiguren, die alle für die Übertragung der Nutzungsrechte an Boden dienten, ohne den Übergang des Eigentums herbeizuführen. Es war die Welt des geteilten Eigentums, *4 wie dies im ständisch konstituierten und gebundenen ancien régime charakteristisch war. *5 Wir kennen diese vor allem von der Beziehung zwischen dem Gutsherr und den (leibeigenen) Bauern. Dass die (katholische) Kirche Großgrundbesitzer war und neue Rechtsinstitute erfunden hat, um seine Besitzungen zu bewirtschaften, ist heutzutage vielfach in Vergessenheit geraten, vor allem in ehemals reformierten und später tiefgreifend säkularisierten Nordeuropa.

Die Abschaffung des geteilten Eigentums und Vereinheitlichung jenes zum sogenannten absoluten Eigentum gilt als einer der wichtigsten Ecksteine der juristischen Modernisierung. *6 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als in Europa die ständischen Schranken meistens schon abgebaut waren, das geteilte Eigentum an dem Boden darunter, haben die Territorien des heutigen Estland und Lettland, damals der baltischen Ostseeprovinzen des russischen Reichs eine neue Privatrechtskodifikation bekommen. Jener dritter Band des „Provinzialrechts der Ostsee-Gouvernements” oder „Liv-, Est- und Curlaendisches Privatrecht” (hier weiterhin LECP) wurde 1864 vom russischen Zaren Alexander dem II. bestätigt und 1865 in Kraft gesetzt. *7 Obwohl das Gesetzbuch in der europäischen Modernisierungszeit verfasst war, kann man es nicht als eine Kodifikation des modernen Privatrechts bezeichnen. Dies nicht nur, weil da die mittelalterlichen Rechtskreise und Rechtspartikularismus beibehalten und sorgfältig geregelt sind, sondern auch, weil man im LECP eine Reihe der Rechtsinstitute gesetzlich festgelegt hat, die dem Inhalt und grundsätzlicher Struktur nach dem vormodernen ancien régime angehören. *8 Es gehört darunter auch etwa die gesetzliche Festlegung des geteiltes Eigentums sowohl im Allgemeinen *9 als in den einzelnen Rechtsinstituten und Vertragstypen. Dazu gehören etwa der schon erwähnte Erbzins, ebenso das precarium, dessen römischrechtliche Charakter im LECP, die Bedeutung in der Rechtspraxis der Ostseeprovinzen der Zarenzeit wie auch sein späteres Nachleben in der Privatrechtsentwicklung der Republik Estland wir hier näher betrachten werden. Es gibt einen berühmten estnischen Spruch: „Wer die Vergangenheit vergisst, lebt ohne Zukunft”. Auch für die Rechtswissenschaft ist es von Nutzen, sich an die Vergangenheit zu erinnern, um nicht zufällig in die Fallen der Geschichte zu geraten.

1. Das römischrechtliche precarium im LECP

LECP gilt als eine Privatrechtskodifikation, die zwar im russischen Reich in deutscher Sprache verfasst war, dem Inhalt nach aber vor allem vom römischen Recht beeinflusst sein sollte. Vor allem die jüngere estnische Forschung hat die These der römischrechtlichen Prägung von LECP in der letzten Zeit wenn auch nicht in Frage gestellt, dann doch zu den erheblichen Differenzierungen in diesem Zusammenhang gezwungen. *10 Beim precarium sollen wir allerdings gleich zugeben, dass es ein durchaus römischrechtlicher Vertragstyp war und dass es ohne Zweifel im LECP steht. Im Art. 3765–3776 LECP gibt es zwischen dem „Leihcontract” (Art. 3743–3764) und dem „Depositum oder Verwahrungsvertrag” (Art. 3777–3814) den in zwölf Artikeln (2765–3776) geregelten Vertrag namens „Precarium oder Gunstrechtsvertrag”. Die Legaldefinition in LECP lautet wie folgend:

„3765: Durch das Precarium oder den Gunstrechtsvertrag wird von dem einen Paciscenten auf den andern der Besitz und freie Gebrauch einer Sache unentgeltlich unter der Verbindlichkeit übertragen, dieselbe zu jeder Zeit, auf Verlangen des Gebers, wieder zurückzugeben.”

Es war also eine Art Leihvertrag, der sich von dem eigentlichen Leihvertrag wie es im LECP geregelt war, durch die Merkmale wie Unentgeltlichkeit, freier Gebrauch, Ziehung der Früchte und vor allem jederzeitige Widerrufbarkeit unterschied. Vor allem das Prinzip der Bestimmtheit der Dauer oder des Zwecks der Nutzung bei dem gewöhnlichen Leihvertrag wurde von den zeitgenössischen Autoren als entscheidend für das Bedürfnis nach einem separaten Precarium-Vertrag daneben angegeben. *11

Anders als bei den westeuropäischen aber ähnlich wie bei den russischen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts sollte im LECP nach der Vorgabe des Zaren auf die Quellen der Artikeltexte verwiesen werden. *12 Unter dem Art. 3765 stehen z.B. Quellenverweise auf Dig. 43.26.1 und 43.26.2.3. Das Precarium des LECP war ein römischrechtliches Institut auch äußerlich – bei allen Artikeln zum Precarium wurde in LECP ausschließlich auf die römischen Quellen verwiesen. Die bisherigen Erfahrungen bei der Forschung der Stimmigkeit der Quellenverweise im LECP haben gezeigt, dass es durchaus auch Fehlverweise gab – bis dahin, dass die verwiesene Quelle gar keinen Zusammenhang mit dem Artikeltext in LECP hatte. *13 Bei den sachenrechtlichen Artikeln konnten sogar alle Quellenverweise bei einem LECP-Artikel falsch sein. Bei den Artikeln über den Kaufvertrag waren die Verweise allerdings mehrheitlich richtig. *14 Dies gilt auch für das hier zu untersuchende schuldrechtliche Institut, Precarium. Die zwölf Artikeln in LECP sind alle mit mindestens einem richtigen Quellenverweis versorgt, wenn auch nicht ganz übereindeckend. Bei dem hier oben zitierten Art. 3765 z.B. ist der erste Verweis im LECP-Text eigentlich sehr allgemein ausgedrückt. So ein Vorgehen ist bei diesem Gesetzbuch eher ungewöhnlich – meistens sind die Quellenverweise mit einer höheren Präzisionsebene angegeben. Dig. 43.26.1 hat nämlich vier Fragmente. Einige Merkmale wie etwa die Verpflichtung, die Sache jederzeit zurückzugeben, und die Vorschrift, dass der Prekarist den Besitz der Sache bekommt (Dig. 43.26.2.3.), sind auch in den verwiesenen Quellen auffindbar. Die Unentgeltlichkeit und freier Gebrauch sind aber nur indirekt aus den Quellen zu entnehmen. So basiert der Art. 3765 grob genommen in der Tat auf den verwiesenen römischrechtlichen Quellen, von einer wörtlichen oder auch inhaltlichen Übereindeckung kann man aber nicht sprechen. Es bleiben von Dig. 43.26.1. nämlich noch weitere zwei Fragmente übrig, die den Unterschied zu Schenkungs- und Leihvertrag behandeln. Es wäre also stimmiger gewesen, wenn der Redakteur von LECP seinen Quellenverweis noch um eine Ebene präzisiert hätte.

Ebenso wie die früheren Untersuchungen, ergibt auch die nähere Betrachtung der Regelung des Precariums im LECP das Ergebnis, dass die Quellenverweise sich manchmal nur auf einen Teil des Artikeltextes bezogen. So z.B. Art. 3772, wo dem Prekaristen das Recht auf die Früchte zugesprochen ist. Dieser Teil hat keine Bestätigung in verwiesenen römischen Quellen Dig. 43.26.1.1; 43.26.8.3.-4 und 43.26.14 Vom Recht des Prekaristen auf das Kind der Sklavin, die er als precarium besaß, hätte aber Dig. 43.26.10, nicht weit von den eigentlich verwiesenen Quellen, gesprochen – im LECP ist diese Quelle aber nicht erwähnt. Genau so war es auch mit der Regelung in LECP 3768, dass der Empfänger „nicht bloss Inhaber, sondern auch Besitzer der Sache [ist]; nur wird er in seinem Besitze bloß Dritten, nicht auch dem Geber gegenüber geschützt”. Die verwiesenen römischen Quellen betrafen nur den ersten Teil des Artikeltextes. Für den zweiten Teil über die Uneingeschränktheit des Rückforderungsrechts des Precariumgebers wäre Dig. 43.26.17 einschlägig gewesen, in LECP wird es aber auf dieser Stelle nicht erwähnt.

In einigen Fällen haben sich die römischen Quellentexte wiederholt, so dass nicht alle angeführten Verweise eigentlich nötig sind (LECP Art. 3772, 3769, 3768, 3767, 3773). Auch dieser Befund bestätigt die früheren Ergebnisse zu der Frage nach dem Verhältnis der Vorschriften in LECP zu den verwiesenen ursprünglichen Quellen des römischen Rechts. Immerhin, auch wenn manche Verweise überflüssig und manche nicht ganz richtig waren, wird der römischrechtliche Ursprung des Precarium-Vertrags in LECP dadurch nicht in Frage gestellt.

Die Treue der Kodifikation gegenüber dem Vorbild aus dem antiken römischen Recht hat bei dem Provinzialrechtsprofessor Carl Eduard Erdmann *15 etwas Irritation hervorgerufen *16 , wie übrigens auch die Einbeziehung des Begriffs des geteilten Eigentums in das Gesetzbuch. *17 Erdmann hat auch darauf hingewiesen, dass das Precarium schon im antiken Rom „den Charakter einer weniger von den Gesetzen als von dem guten Willen des Gebers abhängigen Vergünstigung” hatte. *18 Da dieser Vertrag aber in der Kodifikation stand und damit zum geltenden Recht zählte, sollte Erdmann diesen doch in seinem großen „System” mitbehandeln. *19 Es betrifft auch die späteren Verfasser im Bereich des ostseeprovinziellen Privatrechts: Vladimir Bukovskij *20 war in seinem Kommentar naturgemäß durch die Vorgaben der Kodifikation gebunden *21 und Igor Tjutrjumov *22 hat in seinem Lehrbuch das baltische Precarium ebenfalls mitbehandelt. *23 In diesen russischsprachigen Werken wird der Vertrag als dogovor ustupki genannt, der wiederum als „Abtrittsvertrag” ins Deutsche übersetzt werden könnte.

2. Das Precarium in der baltischen Gerichtspraxis

In wieweit der im Gesetzbuch geregeltes Precarium oder mit anderen Namen Gunstrechtvertrag in der ostseeprovinziellen Lebens- und Rechtspraxis relevant war, ist schwer zu sagen. Die Gerichtsentscheidungen sind meistens nicht veröffentlicht und es gibt auch keine Archivuntersuchungen zu dieser Fragestellung. In der kommentierten Ausgabe von LECP aus dem Ende der Zarenzeit gibt es keine höchstrichterliche Entscheidungen, obwohl es sonst in diesem Kommentar üblich ist. *24 Vom gedruckten Material kennen wir allerdings eine Entscheidung zum Precarium und vom ungedruckten Material eine weitere. Anhand des Registers zur Sammlung der Zivilrechtlichen Entscheidungen der rigaschen Magistratsgerichte lässt sich ein Fall zum Stichwort „Precarium oder Gunstrechtsvertrag” ermitteln. *25 Es ging um die Verlangung „der Rückgabe von 50 Prämienbilleten I. Emission”, welche ein geisteskranker „G. aus Freundschaft dem F. zum Versatze bei einer Bank geliehen habe”. Nun war F. gestorben und die Kuratoren von G. haben diese Wertpapiere aus dem Nachlass des F. zurückverlangt. Die Beklagten Nachlasskuratoren behaupteten, es sei ein Precariumvertrag gewesen, wonach F. die Wertpapiere zum „freien Gebrauch” bekommen hätte. F. habe diese auch frei gebraucht oder gar verbraucht, indem er sie schon zu Lebzeiten bei der Bank ausgelöst und anderweitig veräußert habe. Das Gericht fand dagegen, dass die Wertpapiere ausdrücklich „zum Versatz bei einer Bank” geliehen waren. Das Erfordernis der Bestimmtheit des Zweckes sei also erfüllt und deshalb war der Vertrag als ein Leihvertrag, nicht als ein Precarium zu behandeln.

Obwohl das Gericht das Vorhandensein eines Precariumverhältnisses in diesem Fall verneint hatte, ist die Regelung als solche anerkannt worden. Es bleibt allerdings etwas unklar, was für Vorteil die Beklagten von dieser Berufung auf das Precarium erhofft haben – zur Rückgabe der Wertpapiere wären sie auch nach diesem Vertrag ebenfalls verpflichtet gewesen. Die Gerichtsentscheidungen in Zwingmanns Sammlung sind leider nur exzerptenweise publiziert *26 und so bleibt hier die eigentliche Abwehrstrategie der Beklagten anhand des Precariumvertrages ohne weiteren Archivrecherchen verborgen.

Die zweite uns bekannte Entscheidung wurde nicht von den provinziellen Gerichten gefällt, sondern vom obersten Gerichtshof des Zarenreichs, vom Dirigierenden Senat. Die Precarium-Entscheidung des Senats ist eine von insgesamt 71 grundstücksrechtlichen Entscheidungen, die im Zeitraum 1877–1889 aus dem Gouvernement Estland an den Senat gelangten. Der Fall ist als ein wichtiger Beispielsfall für die Fragestellung nach der Modernisierung des geltenden Gesetzesrechts durch den Senat eingehend behandelt worden mit dem Ergebnis, dass Senat auch in Bezug der grundsätzlich vormodernen Institute im LECP ganz gesetzestreu geblieben war und keine Modernisierungen contra legem vorgenommen hatte. *27

Der Fall selbst kam aus der estländischen Grenzstadt Narva, wo der Magistrat im Jahr 1861 einen Raum in dem der Stadt gehörenden Börsenhaus der Großen Gilde „für die Einrichtung der Gildenstube in die unentgeltliche Benutzung” gegeben hatte. Jener Beschluss sollte „bis zur Abänderung durch die Anordnung der höheren Obrigkeiten” in Kraft bleiben. *28 Zu einer solchen Anordnung kam es nach 1877, als die allgemeine russische Städteordnung von 1870 auch an die baltischen Provinzen ausgedehnt wurde. Damit hat man die von Mittelalter stammende Rats- und Zunftverfassung der baltischen Städte abgeschafft. Die frühere Grosse Gilde hieß danach Bürgerverein „Grosse Gilde”. Die neue Stadtverwaltung von Narva hat von den ehemaligen Gildenbrüdern und nunmehr Vereinsmitgliedern entweder die Räumung des Raumes oder die Bezahlung der entsprechenden Miete verlangt und zwar auch nachträglich für die Zeit seit 1861. Der Bürgerverein seinerseits wollte im Fall der Räumung die verwendeten Renovierungskosten von der Stadt ersetzt bekommen.

Bei der Entscheidung, welchen Ansprüchen stattzugeben ist, hat sich mehrfach die Frage nach der Rechtsgrundlage des Nutzungsrechts gestellt. In verschiedenen provinziellen Instanzen wurde es z.B. als ein Wohnungsnutzungsrecht, d.h. als ein persönliches Servitut behandelt. Als die Sache aber zum zweiten Mal und zwar auf der Vollversammlung des Senats zur Entscheidung kam, ist jenes Gremium bei der Bestimmung des Vertragtyps dazu gekommen, dass zwischen den Parteien ein Gunstrechtsvertrag oder Precarium geschlossen sei. Durch das Zurückgreifen auf den Precariumvertrag hat sich die Vollversammlung von der Prüfung der Frage befreit, ob die verwendeten Renovierungskosten notwendig oder nützlich waren, wie es bei der Qualifikation des Rechtsverhältnisses als Servitut oder auch von dem Appellanten nun behaupteten Leihvertrag notwendig gewesen wäre. Das Precarium hatte eben ein unentgeltliches, aber auch sehr schwaches Nutzungsrecht begründet und die verwendeten Kosten waren danach nicht zu ersetzen (LECP 3772). Bei diesem Fall war aber merkwürdig, dass der Senat, ganz entgegen seinen sonst eingehaltenen und öfters betonten Grundsätzen, aus eigener Initiative heraus die Rahmen der Appellation überschritten hatte. Der Streit war damit zugunsten der russisch geprägten Stadtverwaltung und zu ungunsten der wesentlich deutschen Gilde entschieden. Hier ist allerdings von Bedeutung, dass die Anerkennung des gesetzlichen Angebots eines Precariums nicht von den ostseeprovinziellen Streitparteien kam, sondern von der hohen russischen Reichsbehörde auf das Rechtsverhältnis aus der eigenen Initiative aufgezwungen wurde. Es bleibt damit nur der von Zwingmann mitgeteilte Fall vor dem Rigaschen Waisengericht und Rat übrig, wo wir mit Sicherheit wissen, dass in der baltischen Gerichtspraxis jemand auf den gesetzlich geregelten Precariumvertrag berufen hatte. Wie schon gesagt, wissen wir leider nicht, was man von dieser Berufung eigentlich erhofft hatte.

3. Das Nachleben des Precariums in der Republik Estland in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts

Im Wirren des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen hatten sich mehrere kleinere Nationalstaaten von den ehemaligen großen Imperien emanzipiert, so auch Estland im Jahr 1918. Zum eigentlichen Aufbau des neuen Staates konnte man allerdings erst nach dem Eintritt des Friedens im Jahr 1920 schreiten. Im Jahr 1920 hat man durch das Gesetz über die Abschaffung der Stände *29 in Estland die Geltung des LECP für die ganze Bevölkerung ausgedehnt. *30 Die darin kodifizierten ständischen Unterschiede und Besonderheiten hat man durch eine Generalklausel für ungültig erklärt. *31 Die vormodernen Rechtsinstitute der Ständegesellschaft blieben aber im LECP unangetastet und somit auch in der Republik Estland, wie übrigens auch in dem ebenfalls verselbständigten Nachbarstaat – in der Republik Lettland – in Geltung. *32 So auch der Gunstrechtsvertrag oder Precarium, ebenso wie die Regelungen zum geteilten Eigentum im Allgemeinen und in seinen verschiedenen einzelnen Erscheinungsformen.

Bald nach der Etablierung der Republik begannen schon in den 1920-er die Vorarbeiten zu einem neuen, einheitlichen und modernisierten Zivilgesetzbuch Estlands. Die Ausdehnung des personalen Geltungsbereichs von LECP sollte also nur ein Provisorium sein. Zum Jahr 1936 war der umfassende Entwurf der Kodifikation fertig, man hat den aber noch gründlich umgearbeitet und verändert. Der Entwurf sollte im Herbst 1940 von der Staatsversammlung verabschiedet werden. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen im Sommer 1940 hat es verhindert und damit wurde Estlands Zivilgesetzbuch vom 1936/40 nie zu einem geltenden Gesetz. Es galt also das baltisch-zarenrussische LECP in der Republik Estland bis 1940. Das sowjetische Besatzungsjahr 1940/41 hat hier schon etwas geändert, aber die deutschen Besatzungsmächte haben LECP wie auch sonst die Gesetze der ehemaligen Republik Estland wieder in Kraft gesetzt. Somit sollte man behaupten, dass das antikrömisch geprägte Precarium in Estland bis 1944 in Geltung war. Man könnte die Geschichte des Precariums in Estland damit auch enden, wenn es keine weitere, nun schon genuin estnische Geschichte Precariums in der Kodifikation gäbe.

Der Gunstrechtsvertrag wurde nämlich auch von den Redakteuren des erwähnten estnischen Entwurfs übernommen. An dieser Stelle wird die (Rechts-)Geschichtsgemeinschaft mit den Letten wieder wichtig. Es wird gewöhnlich behauptet, dass vor allem das lettische Zivilgesetzbuch von 1937 (lett. Civillikums) sich auf das Vorbild LECP stützte. *33 Dagegen gilt der estnische Entwurf des Zivilgesetzbuchs als weniger vom LECP und mehr von den ausländischen, d. u. vom deutschen BGB und insbesondere vom schweizerischen ZGB beeinflusst. *34 Gerade im Fall des baltischen Precariums sollte man allerdings das Gegenteilige behaupten. Die Redakteure des lettischen Zivilgesetzbuches haben auf den Gunstrechtsvertrag verzichtet. *35 Dagegen ist im estnischen Entwurf der Vertrag unter dem Namen „soosing” (von der Bedeutung her ganz ähnlich mit dem deutschen Wort „Gunst”) in §§ 1818–1824 geregelt. Die im Parlament im Jahr 1940 verhandelte, aber wegen der sowjetischen Besatzung unverabschiedet gebliebene Redaktion beinhaltet den Vertrag ebenfalls (§§ 1827–1833), *36 nunmehr allerdings unter dem Namen „soodang”. Es gibt eine handschriftliche Variante des Entwurfs von dem ehemaligen Rechtsanwalt Elmar Lani aus Tartu, wo auch die Hinweise auf die Vorbildgesetze angegeben sind. *37 Bei dem Gunstvertrag wird LECP als ursprüngliche und einzige Quelle angegeben. Es ist übrigens auch beim Leihvertrag die Lösung von LECP, d.h. das Prinzip der Bestimmtheit in Bezug auf die Zeit, Art oder Zweck der Nutzung übernommen worden. LECP hat also den estnischen Entwurf doch mehr beeinflusst, als in der bisherigen Literatur angenommen, und zwar gerade in dem für das moderne Privatrecht so entscheidenden Teil, im Schuldrecht. Man könnte auch hier einen Schlusspunkt unter die Geschichte des Precariums in Estland setzen und sagen, dass die sowjetische Besatzung und Annexion diese Gefahr der Übernahme des altrömischen Rechtsinstitut precarium in ein modernes Gesetzbuch beseitigt hatte. Es gibt aber noch eine Nachgeschichte, wo die Gefahr wieder durchaus aktuell wurde. Die wollen wir ebenfalls zum Schluss noch erzählen.

4. Die Vorbilder des Privatrechts nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit am Endes des 20. Jahrhunderts

Sogar bevor die Republik Estland 1991 wieder die Selbständigkeit und staatliche Unabhängigkeit erreichte, stellte sich die Aufgabe einer grundlegender Rechtsreform und Abschaffung des geltenden sowjetischen Rechts. *38 Das erste demokratisch gewählte Parlament Estlands hat in einem für die ganze Reform des Rechtssystems als grundlegend gedachten rechtspolitischen Beschluss vom 1. Dezember 1992 ausdrücklich, wenn nicht sogar ausschließlich auf die Gesetzgebung der Estnischen Republik der Zwischenkriegszeit hingewiesen: „Ausgehend von der Parlamentsdeklaration vom 7. Oktober 1992 über die Wiederherstellung der Verfassungsmäßigen Staatsmacht sind bei der Vorbereitung der Gesetzesentwürfe die in der Republik Estland vor dem 16. Juni 1940 gegoltenen Gesetze zu berücksichtigen.” *39

Das Parlament hat damit seine Unterstützung der Idee von innovatio per restitutio gegeben. Der Restitutionsgedanke wird zwar etwas abgeschwächt durch den Ausdruck der ‘Berücksichtigung’—die vor dem 16. Juni 1940 gegoltenen Gesetze wollte man also doch nicht ohne weiteres und in toto wieder in Kraft setzen. Dennoch war die Idee der Restitution der Republik und derer Rechtsordnung ein wichtiges Topos in den Anfangsjahren der 1990-er.

Vor dem 16. Juni 1940 galt in Estland immer noch das LECP, wie oben schon gesagt. Man hätte also den ganzen Rechtspartikularismus der Stadt- und Landrechte, unterschiedliche Regelungen für Nord-Estland (während der Zarenzeit das Gouvernement Estland) und Süd-Estland (in der Zarenzeit zusammen mit Nord-Lettland das Gouvernement Livland) wieder auf dem Tisch gehabt. Darüber hinaus ist es bis heute nicht ganz klar, in welcher Textfassung das LECP im Jahr 1940 in Geltung war. *40 Es ist auch niemals der Volltext des ursprünglich auf Deutsch verfassten und dann doch offiziell in der russischen Übersetzung gegoltenen Gesetzbuches ins Estnische übersetzt worden. Damit soll hier nur angedeutet werden, auf welche Schwierigkeiten man gleich gestoßen wäre, wenn man die vom Parlament geforderte „Berücksichtigung” als eine wirkliche restitutio der im Jahre 1940 gegoltenen Gesetzesvorschriften gedeutet hätte. Ganz geschwiegen von der inhaltlichen Zugehörigkeit der rechtlichen Lösungen in LECP zum vormodernen Privatrecht.

In der Wirklichkeit hatte sogar der restitutionsgesinnte Teil des estnischen Parlaments im Jahr 1992 eigentlich nicht das LECP als das im Jahr 1940 gegoltene Gesetz in Rücksicht gehabt. Man dachte vielmehr an den Entwurf des estnischen Zivilgesetzbuches vom 1936/40. Die mittelalterlichen Rechtskreise sollten also doch zurück in das Jahr 1940 bzw. 1944 bleiben. Dass der Entwurf der Vorkriegszeit aber Manches vom LECP übernommen hatte, darunter auch die vormodernen Institute oder Vertragstypen – wie auch das hier betrachtete Precarium –haben wir hier oben gerade gesehen.

Vor diesem Hintergrund und zurückblickend erscheint die Eigensinnigkeit der estnischen Reformkräfte, die sich von der Vorgaben des Parlaments und der Geschichte befreit hatten, als rechtspolitisch klug und zukunftsweisend. Man hat bei der Schaffung der estnischen Reformgesetze eine ganze Menge Vorbilder einbezogen. *41 Je weiter aber die Reformarbeiten geschritten sind, je mehr hat man sich vor allem von den historischen Vorbildern emanzipiert. Die estnische Privatrechtsreform ist gesetzgeberisch nämlich Novellenweise durchgeführt worden: Sachenrechtsgesetz 1993, das Gesetz des Allgemeinen Teils des Zivilgesetzbuches 1994, Familiengesetz 1994/95, Handelsgesetzbuch (eigentlich Gesellschaftsrecht) 1995, Erbgesetz 1996/97 und als letztes Schuldrechtsgesetz vom 2001/2. Generell soll der Entwurf der Vorkriegszeit und dadurch auch die technischen und inhaltlichen Lösungen von LECP das Sachenrechtsgesetz vom Jahr 1993 noch ziemlich stark beeinflusst haben *42 , obwohl auch andere Meinung vertreten ist. So hat M. Käerdi – ohne es jedoch mit Quellen zu belegen, gesagt: „Inoffiziell liegt so die Vermutung nahe, dass beim Sachenrecht das „politisch korrekte” historische Argument als Alibi oder auch Tarnkappe benutzt wurde, hinter denen sich eigentlich der Import fremder Rechtskonzeptionen verborgen hat”. *43 Als Hauptquelle zu Sachenrechtsgesetz hat er das deutsche BGB genannt. *44 Alle Autoren sind aber damit einverstanden, dass das Schuldrechtsgesetz sich von diesen historischen Vorbildern entscheidend entfernt hat, auch wenn diese am Anfang berücksichtigt werden sollten. Da der Entwurf von 1940 aber zu „archaisch” schien *45 , wurden statt dessen das deutsche BGB und der Entwurf des deutschen Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes vom 2002, das niederländische Schuldrecht, aber sehr oft auch die sog. Modellgesetze zum Vorbild gezogen. Bei der Regelung des Leihvertrags sind vor allem die Lösungen des BGB berücksichtigt, meist auch übernommen worden. Daneben gab es noch einen Vertrag zur unentgeltlichen Gebrauch: ein Precarium oder soodang benötigte man nicht.

Damit ist auch der Gunstrechtsvertrag oder das Precarium in Estland, wo jenes Erbstück des antiken Roms erstaunlich lange aufbewahrt wurde, der Geschichte überlassen worden.

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pp.222-230